Zunächst wollen wir einen Überblick über die verwirrende Vielfalt von Gemeindebewegungen geben, die sich heute „missional“ nennen und damit den Anspruch verbinden, die Welt für Christus zu gewinnen und christlich zu „transformieren“. Diese Bewegungen haben alle den Netzwerkgedanken verinnerlicht; deshalb sehen sie keine Notwendigkeit, sich organisatorisch zu vereinigen. Sie arbeiten stattdessen nach dem Netzwerkprinzip zusammen und werden geistlich voneinander beeinflußt, ohne daß das Zusammenwirken nach außen klar erkennbar wäre. Im Gegenteil, die Bewegungen differenzieren sich immer weiter aus durch Bildung neuer Netzwerke, um so neue Gemeinden zu beeinflussen oder neue Zielgruppen zu gewinnen.

 

 

1. Gemeinsame Grundlagen

 

Die Grundlage, die allen weitgehend gemeinsam ist, läßt sich wohl so zusammenfassen:

1. Missionale Ausrichtung: Ziel ist die Ausbreitung des „Reiches Gottes“ hier und jetzt auf der Grundlage des falschen Reichevangeliums; die Gemeinde muß sich an der „Mission Gottes“ in der Welt ausrichten und zu den Menschen der verschiedenen Zielgruppen hingehen. Ganze Völker sollen so durch „kontextualisierte“ Mission „für Christus gewonnen“ werden. Vorrangiges Ziel ist nicht die ewige Errettung, sondern die „Transformation“ des Einzelnen und der Gesellschaft bzw. Kultur hier auf der Erde.

2. Organisch vervielfältigende Gemeindestrukturen: Es geht meist um sich rasch multiplizierende Zellen, die über die eingepflanzte DNA und „apostolische Leiterschaft“ gesteuert werden. Das können Zellgruppen innerhalb einer größeren Gemeinde sein, oder organische Gemeinden (Basisgruppen), oder Hausgemeinden. Die Grundeinheiten müssen überschaubar, rasch vervielfältigbar und „flach“, ohne hemmende Leitungsstrukturen aufgebaut sein. Die Grundeinheiten arbeiten in der Regel nach dem Prinzip der homogenen Einheit (Ausrichtung auf eine definierte Zielgruppe).

3. Apostolische Leiterschaft: Es ist (nicht zuletzt aufgrund des Einflusses von C. Peter Wagner) in den meisten Kreisen anerkannt, daß rasches Gemeindewachstum den visionären, unternehmerischen und innovativen Dienst von apostolischen Leitern voraussetzt. Grundlage ist die charismatische Lehre, nach der noch heute der „Fünffache Dienst“ einschließlich neuer Apostel und Propheten existiere. Solche „apostolischen Leiter“ stehen an der Spitze von Gemeinden, die andere Gemeinden gründen, oder sie leiten Gemeindegründungsnetzwerke bzw. Hauskirchennetzwerke. In nichtcharismatischen Kreisen werden sie verhüllend z.B. „Strategiekoordinatoren“ genannt.

4. Charismatische Ausrichtung auf Visionen, übernatürliche Geistesoffenbarun-gen und Wunderzeichen: Die meisten rasch wachsenden Gemeindegründungsbe-wegungen sind auf die Wirkungen des verführerischen Geistes der Pfingst- und Charismatischen Bewegung zurückzuführen. Dieser Geist gibt den Bewegungen die Dynamik und Attraktivität; Vorbild ist hier durchweg die „Jesus People“-Bewegung (mit den Calvary Chapels als Ausläufern) sowie die Vineyard-Bewegung John Wimbers; teilweise auch die dynamischen charismatischen Bewegungen der Unabhängigen Kirchen in Afrika, Asien und Lateinamerika. In einigen Unterströmungen sind diese charismatischen Betonungen massiv, in anderen eher verdeckt.

 

 

2. Die wichtigsten Unterströmungen der missionalen Gemeindebewegung

 

Die missionale Bewegung ist heute schon sehr vielgestaltig und dürfte sich noch weiter ausfächern. Es ist nicht leicht, einen Überblick zu bekommen und die verschiedenen, teilweise eng verwandten und sich überschneidenden Richtungen recht einzuordnen. Wir wollen im folgenden dazu einen Versuch machen und dabei vor allem Unterschiede im taktischen Vorgehen, teilweise auch in den inhaltlichen Anschauungen zugrundelegen.

 

a) Die charismatische Hauskirchenbewegung

Diese Bewegung ist einerseits eine Unterströmung der weltweiten Pfingst- und Charismatischen Bewegung, andererseits gehört sie in vielfacher Hinsicht auch zu den missionalen Gemeindebewegungen. Sie breitet sich, soweit man ihren eigenen Verlautbarungen trauen kann, weltweit stark aus. Eines ihrer Zentren ist China, wo ein wohl beträchtlicher Teil der Untergrund-Hauskirchen pfingstlerisch oder charismatisch und teilweise auch offen häretisch ausgerichtet ist.

In ihr sind charismatische Eigenheiten wie Geistestaufe, „geistliche Kriegsführung“, Visionen und Wunderzeichen vorhanden. Andererseits haben viele führende Leute in ihr das missionale Gedankengut übernommen, das ja interessanterweise mit den Irrlehren der Charismatischen Bewegung über „Endzeiterweckung“ und die dominierende Rolle der Kirche sehr gut vereinbar ist.

Einige Hauskirchenrichtungen sind durch Netzwerke unter Führung von „Aposteln“ verknüpft; manche treffen sich zu mehreren Hauskirchen für gemeinsame „Anbetungsgottesdienste“ und arbeiten locker zusammen. Neben „Hausgemeinde“ gibt es auch Bezeichnungen wie „Mikrogemeinde“, „einfache Gemeinde“ (simple church) oder „Koinosgemeinde“.

Hauskirchen treffen sich überwiegend in Wohnhäusern (manche auch in Kneipen oder anderen Orten) und betonen familiären Zusammenhalt; die überwiegende Gruppengröße liegt etwa zwischen 8 und 30. Manche lehnen Leiterschaft ab und erkennen nur das „freie Wirken des Geistes“ an; andere haben gewisse Formen von Leiterschaft in ihrer Gruppe. Manche bleiben völlig unabhängig und haben teilweise eine starke Selbstbezogenheit; andere sehen sich „missional“ im Sinne des Einwirkens auf die Kultur und der Multiplikation von Hauskirchen. Viele Hauskirchen sterben so schnell wie sie ins Leben gerufen wurden; Kenner schätzen ihre Lebensdauer auf überwiegend 6 Monate bis zwei Jahre.

Zu den führenden Köpfen der „Hauskirchenbewegung“ gehören Wolfgang Simson (sein Buch Houses that Change the World gehört zur Standardliteratur) sowie Tony und Felicity Dale, die house2house gründeten. Auch Rad Zdero, William Beckham, Robert Banks und Victor Choudry gehören zu den Sprechern dieser Strömung. Ein Sprecher des apostolischen Flügels ist Frank Viola, der einige kritische Bücher gegen die etablierte Kirche schrieb, eines davon zusammen mit George Barna, der inzwischen auch mit den Hauskirchen sympathisiert und meint, daß viele Millionen Amerikaner in Zukunft in Hauskirchen ihre Heimat finden. Neil Cole hat viele Verbindungen zur Hauskirchenbewegung, spricht regelmäßig auf ihren Konferenzen und bietet auf der Webseite von Coles Church Multiplication Associates (CMA) auch Bücher von Zdero, Simson und Dale an. Die Hauskirchenbewegung ist aufgrund ihrer Ausrichtung in besonderer Weise verführbar. Auch in Deutschland gibt es Ansätze zu einer charismatischen Hauskirchenbewegung.

 

b) Die charismatisch-apostolische Zellkirchenbewegung

Diese Richtung bevorzugt das Modell der Zellkirche, einer häufig sehr großen Gemeinde, die auf einem System von kleinen Zellen aufgebaut ist. Das große Vorbild ist hier David (Paul) Yonggi Cho mit seiner Gigagemeinde von über 800.000 Mitgliedern, die alle in kleinen Zellen organisiert sind. Chos Buch Successful Home Cell Groups gehört zur Standardliteratur dieser Richtung. Auch hier werden zunehmend klassische charismatische Lehren über die große Endzeiterweckung und die Ausbreitung des Gottesreiches mit missionalen und dominionistischen Irrtümern verbunden.

Auch zahlreiche extremcharismatische Gemeinden, nicht zuletzt apostolische Megakirchen, in anderen Ländern (etwa in Lateinamerika) sind auf dem Zellkirchenprinzip aufgebaut, auch das charismatische „Gospel Forum“ in Stuttgart mit Peter Wenz als apostolischem Leiter. Ralph W. Neighbour, jr. hat einige einflußreiche Bücher für diese Bewegung geschrieben, und einer der jüngeren Sprecher ist Joel Comiskey. C. Peter Wagner unterstützt diese Richtung aktiv mit seiner „Neuen Apostolischen Reformation“. Der Pfingstler Ralph Moore mit seinen Hope Chapels gehört ebenfalls eher in diese Richtung, ebenso Larry Kreider von DOVE Christian Fellowship, der aber auch Netzwerke von Hausgemeinden fördert.

Die Beibehaltung einer übergreifenden Kirchenstruktur und einer vollzeitlichen Pastorenschaft, die die Zellgruppen zusammenhält, unterscheidet diese Richtung von der organischen Gemeindebewegung, wobei die Verwandtschaft groß und die Unterschiede eher graduell sind. Manche Zellkirchen unterstützen auch Kleingruppen-Gemeindegründungsbewegungen oder arbeiten mit ihnen zusammen; umgekehrt sehen auch viele Verfechter von Kleingruppenbewegungen die größeren Zellkirchen als sinnvolle Ergänzung und nicht als Konkurrenz. Auch die Anhänger dieser Richtung können von „einfachen“ oder „organischen“ Gemeinden sprechen.

 

c) Missionale Gemeindegründungsbewegungen

Diese Richtung überschneidet sich vielfach mit den obengenannten; der Unterschied besteht darin, daß das charismatische Element nicht so offen betont wird (obwohl es ebenfalls vorhanden ist) und die Bewegungen sich einen eher evangelikalen Anstrich geben.

Auf der anderen Seite überschneiden sich diese Bewegungen auch mit der Emerging Church, die einen ganz ähnlichen Ansatz vertritt, nur mit weniger Betonung von systematischer Multiplikation. Die netzwerkartige Verflechtung führt dazu, daß auch diese Leute engste Gemeinschaft und Austausch mit Extremcharismatikern sowie mit der Emerging Church haben. In dieser Richtung gehört der ziemlich einflußreiche Missiologe Ed Stetzer, der bei den Südlichen Baptisten arbeitet.

Stetzer hat, zusammen mit dem einflußreichen Berater Warren Bird vom Leadership Network, in Viral Churches diese Bewegung beschrieben und gefördert; auch sein Buch Planting Missional Churches beschreibt und berät die verschiedenen Zweige dieser Bewegung (einschließlich der positiv bewerteten Emerging Church). Zu der einflußreichen Literatur in diesem Bereich gehört auch das Buch Natürliche Gemeindeentwicklung von Christian Schwarz und Wolfgang Simsons Buch Häuser, die die Welt verändern.

In dieser Strömung können wir vier Unterströmungen unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Ansätze in ihrer Gemeindegründungsstrategie verfolgen:

 

1. Konventionellere gemeindegestützte Gemeindegründungsbewegungen

Sie arbeiten mit weitgehend herkömmlichen Gemeindestrukturen (Pastoren, vollzeitliche Mitarbeiter, meist in Kombination mit Zellgruppenstruktur) und von einer oft relativ großen „Muttergemeinde“ aus oder aber von einem Netzwerk aus an weiteren Gemeindegründungen. Der Pastor der „Muttergemeinde“ hat oft eine apostolische Rolle. Ein prominentes Beispiel ist Rick Warren und seine Saddleback-Gemeinde, die Jahr für Jahr zahlreiche weitere Gemeinden gründete. Dazu zählt auch der inzwischen sehr bekannte und einflußreiche Pastor Tim Keller mit seiner Redeemer Presbyterian Church, die ein Netz von Tochtergemeinden und Beziehungen zu anderen Netzwerken unterhält.

Die neu gegründeten Gemeinden sind auch eher konventionell nach dem gewohnten evangelikalen Vorbild aufgebaut; d.h. es wird oft ein „Gründungspastor“ mit einem Team eingesetzt, die teilweise auch von der „Muttergemeinde“ geschult und finanziert werden. Ziel sind mittlere oder auch größere Gemeinden, die zwar stark „kulturrelevant“ ausgerichtet sind und die Kleingruppenstrategie in Form von „Zellgruppen“ eingebaut haben, sich aber doch deutlich von Hauskirchen oder „organischen“ Kleingemeinden unterscheiden. Hier gibt es eine kaum überschaubare Fülle von Initiativen, die z.T. auch von größeren Denominationen (etwa den sehr aktiven Südlichen Baptisten) unterstützt werden. Auch Alan Hirsch arbeitet neuerdings auf dieser Schiene in den USA.

Auch viele etwas konventioneller arbeitende Emerging Church-Führer wie Mark Driscoll mit seinem Acts 29 Network, Erwin McManus, Rob Bell oder Dan Kimball kann man in diese Richtung einordnen. Sie betreiben missionale, kontextualisierte Gemeindegründung für die „Generation X“, wenn auch die Priorität und das Tempo von Neugründungen recht unterschiedlich sein mögen. Diese Leute haben teilweise einen evangelikalen, z.T. neocalvinistischen Anstrich, pflegen aber durchaus Kontakte zu radikaleren Emerging Church-Vertretern. Die „missionale“ Theologie erweist sich hier als ein wichtiges einendes Band zwischen den verschiedenen Verführungsströmungen.

 

2. Missionale Netzwerke zur Multiplikation einfacher Gemeinden

Neil Cole ist ein prominenter Vertreter dieser Strömung, die sich in manchem mit der unter 3. genannten überschneidet. In diese Bewegung hinein wirkt auch Alan Hirsch mit FORGE sowie sein Kollege Michael Frost. Gemeinsam ist ihnen das Bestreben, eine spontan sich multiplizierende Bewegung kleiner, einfacher Basisgemeinden zu schaffen. Das Vorbild dafür sind neben den erwähnten „Jesus-Bewegungen“ der USA (Vineyard, Calvary Chapels) die unabhängigen Kirchenbewegungen in Afrika und Asien mit ihrer religionsvermischenden Prägung und ihrem fast unkontrollierbaren Wachstum. Ihr Konzept beruht auf New-Age-Organisationskonzepten und nicht auf der biblischen Lehre; es ist im wahrsten Sinne emergentes Gedankengut, denn das Konzept der spontanen Emergenz neuer, besser kontextualisierter Inhalte und Strukturen liegt auch diesen Bewegungen zugrunde.

Sie unterscheiden sich hauptsächlich durch das einfache Basisgemeindekonzept von der unter 1. genannten Unterströmung; außerdem arbeiten sie darauf hin, daß sich die Gemeinden ständig weiter fortpflanzen; jede Gemeinschaft soll jedes Jahr mindestens eine weitere Gemeinschaft ins Leben rufen, mindestens bis ins vierte Glied, so daß exponentielles Wachstum entsteht (das unterscheidet sie von der unter 3. und 4. genannten Strömung). Führer sollen aus den Reihen der Neubekehrten kommen; Neubekehrte werden angeleitet, die Bewegung rasch weiter auszubreiten. Die Netzwerkstrukturen haben apostolische Leiter, aber komplexe Organisationen, Institutionen, Kirchengebäude usw. werden vermieden.

Ein wichtiger Theoretiker ist hier neben Neil Cole und Alan Hirsch der Missiologe David Garrison, der für die Südlichen Baptisten in der Dritten Welt Gemeinde-Multiplikationsbewegungen fördert und dem wir später noch begegnen werden. Auch David Watson gehört in diese Bewegungen mit hinein; sie sind mit verantwortlich für die „chrislamischen“ kontextualisierten Gemeindegründungsbewegungen unter Muslimen (C 4 und C 5), von denen wir oben berichteten. Zu den Autoren der Bewegung gehört auch Steve Addison (Movements that Change the World).

Eine weltweit arbeitende Gruppe, die sich zur Aufgabe gemacht hat, überall auf der Welt für jeden Menschen in Gehweite eine Gemeinde zu pflanzen, ist DAWN (Discipling A Whole Nation), gegründet von dem ehemaligen Missionar James Montgomery. Diese charismatisch-apostolisch orientierte Gemeindegründungsorganisation hat sich 2006 ein schwärmerisches Ziel gesetzt: Sie wollen 20.000 apostolische Leiter mobilisieren, die ihrerseits eine Armee von 2 Millionen Gemeindegründern ausbilden und freisetzen, damit 20 Millionen Gemeinden bis zum Jahr 2020 gegründet werden.

DAWN setzt dabei im wesentlichen auf einfache oder Hausgemeinden; es gibt einige Bezüge auch zur charismatischen Hauskirchenbewegung. Grundlage ist ein extremer charismatischer Dominionismus; das Ziel ist es, ganze Nationen zu Jüngern zu machen. Bei DAWN Europe sehen wir, wie charismatische Visionen sich problemlos mit der Emerging Church verbinden; zwei ihrer Europa-Leiter sind profilierte Sprecher der Emerging Church, nämlich Reinhold Scharnowski und Andrew Jones. Eine ähnliche charismatisch-apostolische Prägung hat der ehemalige führende Mitarbeiter von „Jugend mit einer Mission“ Floyd McClung mit seinem Gemeindegründungswerk All Nations. Auch die „organischen Gemeinden“ sind aufgrund ihrer Struktur und Ausrichtung sehr anfällig für verschiedenste neu aufkommende Irrlehren.

 

3. Missional-inkarnatorische Emerging Church-Gruppen

Eine starke Strömung innerhalb der Emerging Church hat sich von dem konventionellen Modell der Pastoren-Großgemeinde abgewandt und experimentiert mit „organischen“ Kleingruppen-Gemeindeformen (Gemeinde im Café, in der Bar, im Einkaufszentrum) ohne angestellten Pastor – zum Teil mit mönchsähnlichen Gemeinschaftsformen, wie man sie auch in der römischen Kirche findet. Das ist verbunden mit alternativen Gottesdienstformen (alternative worship; Meditation, Mystik, Punkmusik etc.).

Sie haben die missionalen Lehren voll übernommen und verstehen sich als inkarnatorische christliche Präsenz unter bestimmten postmodernen Zielgruppen – im Grunde eine „Insiderbewegung“ im postmodernen Westen. Sie vertreten massive Irrlehren in bezug auf die Heilige Schrift, die Erlösung, das Reich Gottes und die Gemeinde, aber sie ziehen es vor, diese so zu formulieren, daß sie noch in den äußerst dehnbaren Rahmen des Evangelikalismus passen. Sie enthalten sich meist offener Kritik an den evangelikalen Grundpositionen und formulieren ihr Selbstverständnis eher als Erneuerung und notwendige Anpassung an das 21. Jahrhundert.

Diese Unterströmung ist in vielem verwandt mit den unter 2. aufgeführten Gemeinde-Multiplikationsbewegungen; sie betreiben jedoch das Anliegen der systematischen Gemeindemultiplikation nicht so entschieden wie diese. Sie hat auch enge Beziehungen zur charismatischen Hauskirchenbewegung. Viele ihrer Vertreter sind offen für extremere missionale und Emerging Church-Gedanken, aber sie vermeiden den Bruch mit den Evangelikalen, in deren Reihen sie Anhänger gewinnen möchten.

Bekanntere Namen sind hier (laut Darrin Patrick) Alan Hirsch, Neil Cole, Jonathan Campbell, Bob Hyatt und Lance Ford, ebenso Andrew Jones und Reinhold Scharnowski. Viele in dem Buch Emerging Churches von Gibbs und Bolger vorgestellten Projekte dürften in diese Kategorie fallen.

 

4. Radikal postevangelikale Emerging Church

Diese Richtung unterscheidet sich nur in wenigen Punkten von der unter 3. gekennzeichneten; die Grenzen sind hier sehr fließend. Sie besteht eher aus intellektualistischen Einzelpersonen, die übers Internet (Blogs) eine ausgiebige theologische Diskussion führen. Sie ist überwiegend eng und freundschaftlich mit allen übrigen Strömungen vernetzt. Vom „evangelikal-missionalen“ Flügel der Emerging Church unterscheiden sie sich durch eine offene Infragestellung bzw. Abweichung von zentralen evangelikalen Bekenntnispunkten wie der Inspiration der Bibel oder der Bedeutung des stellvertretenden Sühnopfers Jesu Christi – Punkte, die auch in den anderen Flügeln nicht mehr wirklich geglaubt werden, an deren äußerlichem Bekenntnis man aber noch festhält.

Diese Strömung nimmt die missionale Taktik der Kontextualisierung radikal ernst. Ihre Theologie bricht mit all dem, was sie ihrer Zielgruppe junger Postmoderner nicht mehr zumuten möchten (und was sie auch selbst nicht mehr glauben). Die Bibel ist nicht mehr Gottes Wort, sondern nur noch eine interessante Geschichte; sie ist nicht mehr geoffenbarte, verbindliche Wahrheit, sondern Rohstoff zum Nachsinnen und Meditieren. Auch andere Religionen enthalten Wahrheit, und man kann von ihnen lernen. Gott ist nicht mehr ein heiliger Gott des Gerichts; er hat die Welt und alles schon mit sich versöhnt und brauchte dafür auch nicht das Opfer Jesu Christi am Kreuz. Bekehrung und Wiedergeburt sind veraltete Begriffe.

Die Sprecher der radikalen postevangelikalen Richtung der Emerging Church (dazu gehören Brian McLaren, Rob Bell, Doug Pagitt, Kester Brewin) sind sich sehr weitgehend mit denen der anderen Strömungen einig, aber sie gehen in der „Kontextualisierung für die postmoderne Kultur“ eben noch einen Schritt weiter – im Grunde denselben Schritt, den die Gemeindegründungsbewegungen auch in den islamischen Ländern gegangen sind: um populär zu sein und Leute zu gewinnen, opfert man zentrale Bereiche der biblischen Lehre, die nicht vermittelbar erscheinen.

Gemeindlich überwiegen auf diesem Flügel verschiedene Modelle einfacher, organischer Gemeinschaften ohne vollzeitliche Pastoren, mit unterschiedlicher Verbindlichkeit; Gemeinschaft wird oft mehr übers Internet und Austauschforen gepflegt; der Akzent liegt nicht unbedingt auf Gemeindevervielfältigung; es gibt viele intellektuelle Diskussionen und Blogs. Grundsätzlich sind die Leute für Pfingstlerisches und Charismatisches offen, wenn auch manchmal in dieser Hinsicht zynisch-skeptisch; sie kommen vielfach aus diesen Kreisen.

 

 

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch von R. Ebertshäuser, Zerstörerisches Wachstum.

 

Auf dieser Webseite können Sie einen ausführlichen Auszug aus diesem Buch herunterladen, in dem auch dieser Abschnitt enthalten ist:

Gemeindegründungsbewegungen – Gemeindewachstumskonzepte – neue Missionslehren unter den Evangelikalen. Eine Stellungnahme aus bibeltreuer Sicht

 

 

Weiterführende Literatur:

 

Rudolf Ebertshäuser: Zerstörerisches Wachstum. Wie falsche Missionslehren und verweltlichte Gemeindebewegungen die Evangelikalen unterwandern. Steffisburg (Edition Nehemia) 3. Aufl. 2015; gebunden, 544 S.

Rudolf Ebertshäuser: Aufbruch in ein neues Christsein? Emerging Church – Der Irrweg der postmodernen Evangelikalen. Steffisburg (Edition Nehemia) 2008, Taschenbuch, 256 S.

Rudolf Ebertshäuser: Soll die Gemeinde die Welt verändern? Das „Soziale Evangelium“ erobert die Evangelikalen. Steffisburg (Edition Nehemia) 2014, Taschenbuch, 276 S.

Rudolf Ebertshäuser: Kulturrelevante / Missionale Gemeinden. überblick + durchblick 3. Steffisburg (Edition Nehemia) 2014

Rudolf Ebertshäuser: Emerging Church / Emergente Bewegung. überblick + durchblick 1. Steffisburg (Edition Nehemia) 2013

 

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