Wir müssen hier kurz auf eine Entwicklung eingehen, die bedeutsame Folgen hatte, jedoch biblisch nicht leicht zu beurteilen ist und gemischte Ergebnisse hervorbrachte: die Erneuerungsbewegung, die als Gegenströmung zur katholischen Kirche im 16. Jahrhundert aufkam und allgemein als „Reformation“ (lat. reformatio = Umgestaltung, Erneuerung) bezeichnet wird.
 
 
 

Vorläufer der Reformation

 

Durch das ganze Mittelalter hindurch hatte die römische Kirche das wahre Evangelium unterdrückt und verfolgt und nach Kräften versucht, die Botschaft der Bibel von den Menschen in ihrem Herrschaftsbereich fernzuhalten. Dagegen hatte es immer wieder Widerstand gegeben. Bewegungen wie die Waldenser in Oberitalien hatten das biblische Evangelium und die Heilige Schrift festgehalten und immer wieder heimlich ausgebreitet.

Die „Lollarden“ in England und die „Hussiten“ in Tschechien waren ebenfalls Bewegungen, in denen der Geist Gottes zur Ausbreitung des Evangeliums wirkte und die Wahrheiten der Schrift wieder auf den Leuchter stellte. Sie wurden von der römischen Kirche blutig unterdrückt und grausam verfolgt, doch die Herrscher der Finsternis konnten das Licht Christi nicht austreten.

 
 
 

Die Lage zur Zeit der Reformation

 

Im 16. Jahrhundert kam es dann zu einem besonderen Zusammentreffen verschiedener Faktoren, die schließlich zu der protestantischen Reformation führten („protestantisch“ von lat. pro-testari = öffentlich bezeugen; „Reformation“ = lat. re-formatio = Umgestaltung, Erneuerung).

Die geistlichen Bestrebungen zu einer Rückkehr zum biblischen Evangelium und zur Bibel selbst bekamen neuen Auftrieb. An verschiedenen Orten des „christlichen Abendlandes“ forschten erweckte Männer in der Schrift selbst – viele davon als römische Priester bzw. Theologen ausgebildet, wie Martin Luther, Huldrych Zwingli und Johannes Calvin. Sie entdeckten mehr und mehr die Unvereinbarkeit der römischen Lehren und Praktiken mit der biblischen Wahrheit.

Die Unzufriedenheit der „Laien“ mit dem korrupten römischen System wuchs; das Volk stöhnte unter den Lasten, die die falschen Hirten ihnen aufbürdeten. Mehr und mehr wuchs die Erkenntnis, daß die römische Kirche mit der Wahrheit Jesu Christi Mißbrauch trieb. Mißstände wie der Ablaßhandel waren nur die Symptome, an denen eine allgemeine Unzufriedenheit mit den römisch-katholischen Irrtümern sich entzündete.

Zugleich wurde die Macht der römischen Kirche, die durch das Bündnis mit der weltlichen Obrigkeit zu bestimmten Zeiten außerordentlich groß war, geschwächt durch die politisch motivierten Unabhängigkeitsbestrebungen einer großen Anzahl weltlicher Fürsten. Diese hatten zumeist keine geistlichen Motive für ihre Gegnerschaft gegen die katholische Kirche. Sie fühlten sich in ihrer politischen Machtentfaltung durch den Herrschaftsanspruch des Papsttums eingeschränkt und standen in Opposition zum Kaiser, der mit den Päpsten zu jener Zeit verbündet war.

 
 

 

Der geistliche Aufbruch der Reformation

 

Unter diesen Umständen kam es zu einem geistlichen Aufbruch, der von Gott dazu gebraucht wurde, das Licht des Evangeliums zu vielen Menschen in Europa zu tragen. Die führenden Lehrer der Reformation erkannten grundlegende Wahrheiten der Bibel und des echten Evangeliums und verkündigten sie mutig unter dem Volk. Vor allem die Wahrheit der Errettung allein durch Christus, allein aus Gnade, allein durch den Glauben an das vollbrachte Erlösungswerk Jesu Christi wurde in jener Zeit auf den Leuchter gestellt.

Zugleich wurde die Heilige Schrift und ihre Lehren in zuvor unvorstellbarer Freiheit verbreitet. Was die römischen Irrlehrer verdunkelt hatten, kam immer weiter ans Licht.

Die Reformatoren lehnten die hochmütige Anmaßung des römischen Papsttums ab, das die verbindliche Autorität in allen Lehrfragen der Christenheit für die römische Kirche, ihre Traditionen und ihre Päpste beanspruchte. Sie erklärten kühn, allein die Heilige Schrift könne die verbindliche Autorität für die Menschen sein, und die römische Kirche habe die Wahrheiten der Schrift verbogen und verderbt.

Durch die Bibelübersetzungen in den Volkssprachen konnten erstmals die entmündigten „Laien“ selbst das Wort Gottes lesen, und diese Verbreitung der Bibel trug viele gesegnete Früchte.

 
 
 

Kompromisse und Halbheiten bei den Reformatoren

 

Zugleich aber müssen wir im Rückblick sehen, daß die Reformation in verhängnisvollen Kompromissen und Halbheiten steckenblieb. Die führenden Reformatoren dachten und handelten in vielen Punkten menschlich und politisch anstatt geistlich. Sie schafften zwar viele Lehren und Praktiken der babylonischen römischen Kirche ab, aber in zentralen Punkten brachen sie dennoch nicht aus dem babylonischen System aus.

Das betrifft vor allem die Fortführung der völlig unbiblischen „Volkskirche“ mit ihren Massen von ungläubigen Heiden, die nach wie vor durch das betrügerische „Sakrament“ der Säuglingstaufe zu „Christen“ erklärt wurden.

Die Lehre der Bibel von der heiligen Gemeinde, die allein aus Wiedergeborenen bestehen kann, wurde verworfen und der vermischte Charakter der babylonischen Großkirche im wesentlichen beibehalten. Auch ein weiteres falsches „Sakrament“ der römischen Kirche wurde in wesentlichen Punkten beibehalten: das Abendmahl als „Sakrament zur Sündenvergebung“.

Es ist schwer, aus der heutigen Zeit die Gründe für diese verhängnisvolle Fehlentwicklung zu erkennen. Aber eine wesentliche Rolle spielte der unbiblische Kompromiß mit den weltlichen Fürsten, die die Reformatoren als Bündnispartner benutzten. Die weltliche Obrigkeit wollte die reformierten Kirchen als Stützen der Staatsmacht nutzen, was die gewohnte Volkskirchenstruktur notwendig machte.

Die Reformatoren gingen von ihrer Seite aus diesen Kompromiß ein, weil er ihnen Schutz und eine ungehinderte Entfaltung des Reformationswerkes zu sichern schien. Die Alternative wäre damals eine zahlenmäßig wesentlich kleinere, verfolgte Untergrundgemeinde gewesen, wie das Beispiel der Täufer zeigte. Dazu waren die Reformatoren aus verschiedenen Gründen nicht bereit.

So brachte die Reformation nicht den vollen Durchbruch zu einer biblischen Erneuerung, sondern blieb auf halbem Wege stecken. Die biblische Lehre über die Gemeinde und auch die Lehre von der Heiligung und dem Wandel in Christus sowie weitere biblische Lehren (z. B. über die Endzeit, die Entrückung, das Verhältnis der Gemeinde zu Israel, das tausendjährige Reich) wurden immer noch verdunkelt und fanden in den neu entstehenden Kirchen der Reformation keine Verbreitung oder Verwirklichung.

 

Die geistlich gesunden „Täufer“ als Zeugen der biblischen Wahrheit

 
 
Das biblische Verständnis der wahren, von der Welt abgesonderten Gemeinde wurde in dieser Zeit nicht von den Reformatoren in die Praxis umgesetzt, sondern von einem verfolgten und verachteten Nebenstrom, den Täufern, die sogenannt wurden, weil sie die Wahrheit von der biblischen Taufe der Gläubigen durch Untertauchen praktizierten und die Säuglingstaufe nicht anerkannten.

Der Widersacher hat diese echte, biblisch gesunde Bewegung der Täufer raffiniert angegriffen, indem er unter sie einige von der Finsternis inspirierte Irrlehrer und Schwärmer mischte, die in den Augen vieler damaliger und heutiger Beobachter die ganze Bewegung in Mißkredit brachten (Thomas Müntzer u. a.).

Wenn man aber die Geschichte und die Schriften der echten Täufer studiert (z. B. Menno Simon), dann zeigt sich eine vom Geist Gottes gewirkte erweckliche Bewegung von echten Gläubigen, die mit bewundernswerter Treue und Einfalt dem Herrn nachfolgten und die Wahrheit der Bibel in viel größerem Ausmaß verstanden und auslebten als die Reformatoren.

Dieser treue, erweckte Überrest mußte im Gegensatz zu den von den Fürsten geschützten Reformatoren durch viel blutige Verfolgung gehen; es zählt zu den schlimmen Schandflecken der Reformation, daß die „evangelischen“ Reformatoren sie fast genauso grausam verfolgten wie ihre katholischen Gegenspieler.

Aber in der verachteten und verfolgten Täuferbewegung wurden die neutestamentlichen Gemeindelehren weitestgehend verwirklicht, und diese geistliche Strömung der „Mennoniten“ oder „Wiedertäufer“ bringt (obwohl einige „Mennoniten“ inzwischen vom biblischen Glauben abgewichen sind) noch heute Frucht zur Ehre des Herrn.

 
 

 

Der verkehrte Weg der protestantischen Volkskirchen

 

Die in der Reformation entstandenen protestantischen Volkskirchen jedoch mußten in ihrer Entwicklung erfahren, daß die Mißachtung der biblischen Gemeindelehre ihren Preis hat. Bei ihnen gab es immer an der Basis wie in der Führung eine verderbliche Vermischung von Licht und Finsternis, Gläubigen und Ungläubigen.

Bald erstarrten sie mehr und mehr in leerer Orthodoxie, und im 18. und 19. Jahrhundert kam der Einfluß des Gedankenguts von Aufklärung und Rationalismus hinzu, die letztlich von der heidnischen Philosophie und von der Gnosis beeinflußt waren. Im 20. Jahrhundert kam dieser zersetzende Einfluß zur Ausreifung und bewirkte eine immer offener werdende Abkehr der protestantischen Großkirchen von den Grundlagen der Reformation, einen immer deutlicheren Abfall vom biblischen Christusglauben überhaupt.

Die Frucht dieser Entwicklung ist, daß diese Volkskirchen heute immer offensichtlicher babylonischen Charakter, Hurencharakter annehmen. Sie steuern offen auf Religionsvermischung und antichristliches Heidentum zu. Wie die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ gezeigt hat, haben sie ihr protestantisches Erbe längst verraten und verkauft und sind zunehmend bereit, sich wieder unter das Dach der römischen Weltkirche zu begeben. Sie hatten das Lager der Hure Babylon nie ganz verlassen, und nun, am Ende der Zeiten, kehren sie bewußt wieder in dieses Lager zurück.

 
 

 

Pietistische Gemeinschaften: Der Weg der Gläubigen in den Volkskirchen

 

Dennoch gab es seit der Reformationszeit in dieser vermischten Kirche wahre Gläubige, die durch das verkündigte Evangelium und den Zugang zu Gottes Wort bei dem Herrn Jesus Christus Frieden und Erlösung fanden. Diese Gläubigen litten unter den oft gottlosen und finsteren Verhältnissen in ihren „Kirchengemeinden“, die ja keine wahre Gemeinde waren.

Aus ihrer Suche nach geistlicher Gemeinschaft und gegenseitiger Erbauung wurde der kirchliche Pietismus (von lat. pietas = Frömmigkeit) geboren – eine geistliche Strömung, die auf der einen Seite einen Zug zur biblischen Wahrheit und zum biblischen Glaubensleben aufwies, auf der anderen Seite auch unter den faulen Kompromissen und dem letztlich unbiblischen Verbleiben in den Großkirchen (vgl. 2Kor 6,14-18!) zu leiden hatte.

In den pietistischen Gemeinschaften, die im Rahmen der Großkirchen blieben, konnten die wahren Gläubigen Erbauung und Glaubensstärkung finden, die sie bei den häufig ungläubigen Pfarrern nicht bekamen. Besonders im 18./19. Jahrhundert gab es im Rahmen der „Erweckungsbewegung“ viele segensreiche Entwicklungen, gerade im Bereich der Evangelisation.

Auf der anderen Seite fanden sich im Pietismus auch ungesunde Einflüsse. Zum einen führte der Einfluß von rationalistischem Gedankengut der Aufklärung zu unklaren Haltungen zur Heiligen Schrift; zum anderen gab es auch mystische Strömungen, die Raum für falschgeistige „Offenbarungen“ und „Gotteserfahrungen“ schufen und verführerische Lehren förderten (u. a. schwärmerische Endzeitlehren, Allversöhnung, Spiritismus). Auch die Abgrenzung zum Katholizismus war nicht überall klar genug.

Im 20. Jahrhundert zeigte sich, daß die Segenszeit des innerkirchlichen Pietismus mehr oder weniger zu Ende gegangen ist. Die erwecklichen Einflüsse versiegten allmählich; hier war Wilhelm Busch wahrscheinlich das letzte von Gott gebrauchte Werkzeug mit überregionaler Wirkung.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts kam es zum verführerischen Einbruch der Pfingstbewegung; später machte sich der Sauerteig der Bibelkritik und des Modernismus immer stärker in der Gemeinschaftsbewegung bemerkbar.

Nun, am Anfang des 21. Jahrhunderts, hat man den Eindruck, daß auch die pietistischen Gemeinschaften zusammen mit den Freikirchen und der „Allianz“-Bewegung sich widerstandslos in den großen endzeitlichen ökumenisch-charismatisch-liberalen Verführungsstrom hineinziehen lassen. Es sind oft nur noch einzelne Gläubige, die wachsam sind und diesen Entwicklungen widerstehen – und die deshalb zunehmend angefeindet und ausgegrenzt werden.

 
 
 
Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus der ausführlicheren Schrift von Rudolf Ebertshäuser Ökumene – wohin führt die Einheit aller Namenschristen?
 

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Weiterführende Literatur:
 
 
Rudolf Ebertshäuser: Zerstörerisches Wachstum. Wie falsche Missionslehren und verweltlichte Gemeindebewegungen die Evangelikalen unterwandern. Steffisburg (Edition Nehemia) 3. Aufl. 2015; gebunden, 544 S.
 

Rudolf Ebertshäuser: Soll die Gemeinde die Welt verändern? Das „Soziale Evangelium“ erobert die Evangelikalen. Steffisburg (Edition Nehemia) 2014, Taschenbuch, 276 S.
 

 
 
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