Auftrag Weltverbesserung? Die Lehren des „Sozialen Evangeliums“ 

 

 

Wir haben uns im ersten Kapitel vor Augen geführt, was die Apostellehre, die Lehre des Neuen Testaments über den Auftrag der wahren Gemeinde Gottes auf Erden sagt. Wir sollten allerdings berücksichtigen, daß diese Grundsätze der Apostellehre im Laufe der Gemeindegeschichte in vielen Kreisen auch der echten Gläubigen nur unvollständig verstanden und verwirklicht wurden. In den Kirchen der Reformation etwa wurde die Absonderung von der Welt ersetzt durch die unbiblische Vorstellung von einer „Volkskirche“, die als Stütze der „christlichen Obrigkeit“ in einer „christlichen Gesellschaft“ mitwirken müsse. Ähnliche Vorstellungen gab es auch im Pietismus. Nur die unabhängigen Gemeinden der Waldenser, der biblischen Täufer, der Mennoniten und späteren biblischen Baptisten oder der Brüderbewegung verwirklichten diese Grundsätze mehr oder weniger konsequent.

 

Die unbiblischen Lehren von einer Christianisierung der Gesellschaft sind alt

Der unbiblische Gedanke, daß die christliche Kirche die Gesellschaft prägen und bessern müsse, ist von daher uralt und hat seine Wurzeln in den falschen Lehren der römischen Kirche, die meinte, sie sei berufen, anstelle von Christus das Tausendjährige Reich auf Erden zu verwirklichen. Besonders im Calvinismus setzte sich diese Linie auch nach der Reformation fort. Manche calvinistischen Puritaner nahmen den angeblichen Auftrag zur Weltveränderung so ernst, daß sie deshalb sogar Bürgerkriege führten (vgl. Cromwell) und eine Theokratie („Gottesherrschaft“) auf Erden einführen wollten wie Calvin in Genf.

Auch viele kirchliche Pietisten waren davon überzeugt, daß sie die als „christlich“ verstandene Gesellschaft ihrer Zeit verändern und durch soziale Reformprojekte bessern sollten. Sie hatten sich weder geistlich noch äußerlich von der protestantischen „Volkskirche“ gelöst, die ihrerseits mit der unter „christlichem“ Etikett firmierenden weltlichen Obrigkeit eng verzahnt war. Nicht zuletzt weil manche Vertreter dieser Obrigkeit das Engagement der Pietisten sehr schätzten und förderten, fühlten sie sich berufen, vielerlei Sozialreformprojekte ins Leben zu rufen, die teilweise durchaus gut gemeint waren, leider aber allzu bald verweltlichten und keine geistliche Frucht mehr brachten.

Die überwiegend calvinistisch-puritanisch geprägte Erweckungsbewegung im englischsprachigen Raum (John Wesley, George Whitefield, Jonathan Edwards u.a.) hatte zur Bekehrung sehr vieler Menschen geführt. In ihr waren aber waren neben dem vorrangigen Anliegen der Errettung von Seelen auch sozialreformerische Ansichten wirksam, die sich teilweise auf die Vorstellung stützten, Amerika sei berufen, als das „gelobte Land“ der Christenheit das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen. Solche Tendenzen müssen im Licht der biblischen Lehre als trügerisch und falsch eingeordnet werden. Allerdings besteht der gewaltige Unterschied zu der heutigen „Transformationstheologie“ darin, daß die damaligen Gläubigen vorrangig bemüht waren, das biblische, wahre Evangelium von der ewigen Errettung der Seelen durch Christus auszubreiten und Menschen zu einer biblischen Bekehrung und Neugeburt zu führen.

 

Ein anderer Geist: die Wurzeln des Sozialen Evangeliums und der ökumenischen Bewegung

Das „Soziale Evangelium“ dagegen knüpfte zwar in manchem an die oben beschriebenen falschen Lehren des Calvinismus und der Erweckungsbewegung an, aber es entstammt einer völlig anderen Richtung, die nicht mehr als Teil der wahren Gemeinde Jesu Christi angesehen werden kann, sondern als endzeitliche Strömung der Verführung und des Abfalls vom Glauben gewertet werden muß. Hier geht es nicht mehr um Irrtümer echter Gläubiger, sondern um verderbliche Verfälschungen des Evangeliums selbst durch die Bibelkritik und die sogenannte „Liberaltheologie“, die als Frucht der Aufklärung und des Rationalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie ein Steppenbrand um sich griff und rasch die zuvor schon innerlich toten protestantischen Großkirchen eroberte.

Aus der Vermischung evangelikal-pietistischer und liberal-humanistischer Tendenzen entstand Anfang des 20. Jahrhunderts die ökumenische Weltbewegung, die zunächst als Weltbewegung für „Mission“ begann. In ihr waren aufrichtige Bestrebungen, das Evangelium zu verkündigen und Seelen zu retten, vermischt mit modern-theologischen Irrtümern und Weltveränderungsillusionen. Ihre Parole lautete: „Die Evangelisation der Welt in dieser Generation“. Hinter dieser auf den ersten Blick gut klingenden Losung stand die verkehrte Vorstellung, es würden sich in dieser Heilszeit ganze Völker und letztlich die ganze Welt zu Christus bekehren, und unter Führung einer vereinten Kirche könne man das Reich Gottes ohne Christus auf der ganzen Erde verwirklichen.

Daraus wurde ein ebenfalls unbiblischer Plan abgeleitet, die Einheit aller sich zum Christentum bekennenden Kirchen herzustellen, damit die Welt glauben könne. In dieser mit großem Elan beginnenden Bewegung gewannen bald die liberaltheologischen Kräfte die Überhand. Sie schrieben das im 19. Jahrhundert von Liberaltheologen entwickelte „Soziale Evangelium“ auf ihre Fahnen und breiten es seither in aller Welt, nicht zuletzt in den Ländern und Kirchen der „Dritten Welt“, aus. Die ökumenische Weltbewegung ist vor allem im „Ökumenischen Rat der Kirchen“ (ÖRK, engl. World Council of Churches) mit Sitz in Genf organisiert. Der ÖRK vereint etwa 345 liberal-protestantische, orthodoxe oder pfingstlerische Kirchen mit ca. 500 Millionen Mitgliedern.

 

Die bibeltreuen „Fundamentalisten“ und die „Evangelikalen“ als „dritte Kraft“

Der entschiedene Gegner der liberal-ökumenischen Kräfte waren und sind die bibeltreuen, von der Welt abgesonderten Gläubigen, die sich in unabhängigen Gemeinden zusammenfinden und an der Autorität und Irrtumslosigkeit der Bibel, am biblischen Evangelium der Gnade und am neutestamentlichen Auftrag der Gemeinde festhalten.

Sie wurden im Amerika im 20. Jahrhundert als fundamentalists bezeichnet, als „Fundamentalisten“, die die Fundamente des wahren biblischen Glaubens verteidigten. Diese Kräfte setzten der abgeirrten ökumenischen Sozialmission eine eifrige bibeltreue Missionsarbeit entgegen und verkündeten offensiv die biblische Lehre, daß die gegenwärtige böse Welt nicht reformierbar ist, sondern dem Zorngericht Gottes entgegeneilt, daß Jesus Christus als Herr und Richter in Bälde kommt, um Seine Gemeinde zu sich zu entrücken und dann Gericht über die Gottlosen zu üben. Sie hielten fest an der biblischen Lehre vom Reich Gottes, das der Messias selbst errichten wird. Erst in diesem Friedensreich, so lehrten sie mit der Bibel, kann Frieden und soziale Gerechtigkeit verwirklicht werden.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde zwischen diesen beiden Lagern eine „dritte Kraft“ immer stärker und einflußreicher. Die aus dem Pietismus und der Erweckungsbewegung entstandenen neuen „Evangelikalen“ grenzen sich sowohl von den bibeltreuen Fundamentalisten als auch von den ökumenischen Liberalen ab. Sie nannten sich noch „Evangelikale“, was eigentlich „Anhänger des biblischen Evangeliums“ bedeutet, aber sie entwickelten sich in eine bedenkliche Richtung, die immer weiter von dem Weg der klassischen „evangelicals“ früherer Zeiten abdriftete. In ihren Reihen gibt es eine eher konservative, mit bibeltreuen Lehren sympathisierende Unterströmung, die im Lauf der Zeit immer mehr an Einfluß verlor, und eine eher für die Liberaltheologie sowie auch für die Charismatik offene, gesellschaftsreformerische Strömung, die bald zur beherrschenden, auch theologisch einflußreicheren Kraft wurde und heute das Erscheinungsbild der Evangelikalen prägt.

Zwischen diesen weltoffenen „Neo-Evangelikalen“ und den liberalen Ökumenikern gab es einen beständigen geistigen Austausch und „konstruktive“ Zusammenarbeit, was sich u.a. darin äußerte, daß führende Evangelikale aktiv an den theologischen Diskussionen und Kongressen des ÖRK teilnahmen. Das führte dazu, daß die theologischen Denkmuster der Ökumeniker mehr und mehr auch von evangelikalen Theologen, Bibelseminaren und Kirchenführern übernommen wurden. Es kam zu einer schlimmen Vermischung in der Lehre, so daß bibelkritische Grundsätze und Gedanken mit Bekenntnissen zur Autorität der Bibel vermischt wurden. Das führte u.a. dazu, daß auch das ökumenische Soziale Evangelium mit gewissen Abschwächungen bei den Evangelikalen zunehmend Anerkennung fand, obwohl man sich auch auf ältere Glaubensbekenntnisse berief, die noch der biblischen Lehre näherstanden.

Das bildet den geschichtlich-geistlichen Hintergrund für die Breitenwirkung des Sozialen Evangeliums, das wir im folgenden näher untersuchen wollen. Daß wir uns überhaupt mit diesen Lehren auseinandersetzen müssen, hängt mit jener Offenheit und Durchlässigkeit für falsche Lehren zusammen, die zwischen Ökumenikern und liberalen Evangelikalen, leider aber auch zwischen bibeltreu geprägten Christen und den liberalen Evangelikalen besteht. Durch diese unbiblische Offenheit können schlimme Irrtümer immer weiter „diffundieren“ und erreichen auch bibeltreue Kreise, die oftmals arglos und unwissend in bezug auf die problematischen Quellen und Hintergründe dieser Konzepte sind.

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Im folgenden wollen wir uns auf der Grundlage der biblischen Lehre die Aussagen der neuen Missions- und Gemeindebewegungen näher ansehen, die alle irgendwo darauf hinauslaufen, daß die Gemeinde den Auftrag habe, das Reich Gottes auf der Erde auszubreiten und die ungerechte Gesellschaft vor Ort und weltweit zu verändern, zu „transformieren“ (umzugestalten), wie es im Soziologen- und Theologenlatein heißt.

Wir wollen untersuchen, wie der Ruf nach einer gesellschaftlichen Umgestaltung in die Christenheit eingedrungen ist. Wir wollen die einzelnen Argumente der Verfechter eines sozialpolitischen, transformierenden Auftrags für die Gemeinde Jesu Christi von der Bibel her beleuchten und prüfen, ob sie mit der gesunden Lehre der Heiligen Schrift übereinstimmen. Dabei soll uns der Grundsatz leiten, daß wir nur diejenigen Lehren annehmen können, die mit den Aussagen des Neuen Testaments und besonders der Apostelbriefe übereinstimmen.

 

 

2. Social Gospel: Das „Soziale Evangelium“, seine Entstehung und seine Hintergründe

 

 

Hinter den heutigen Bestrebungen, die Gläubigen zur Weltveränderung anzuleiten, steht ein ziemlich altes Gedankengebäude, dessen Hintergründe wir kennen sollten, um zu einem geistlichen Urteil über diese neue Strömung zu kommen. Auch wenn manche Anwälte der Weltveränderung einen Bezug ihrer Überzeugungen zum „Sozialen Evangelium“ weit von sich weisen, muß man bei nüchterner Prüfung doch festhalten, daß die Grundsätze dieser schon mehr als 100 Jahre alten Strömung heute noch einen entscheidenden Einfluß auf die liberal-evangelikalen Lehren vom sozialpolitischen Auftrag der Gemeinde haben.

 

 

a) Zur Geschichte des „Sozialen Evangeliums“

 

Die theologische Bewegung für ein „soziales Evangelium“ (Social Gospel) entstand vorwiegend in den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; auch in England gab es ähnliche Bestrebungen zu einem „christlichen Sozialismus“ in der Gesellschaft der Fabier. Die Bewegung beeinflußte vor allem protestantische Theologen und Großkirchen und hatte ihren Höhepunkt Anfang des 20. Jahrhunderts.

 

Was führte zur Social-Gospel-Bewegung?

Die Ursachen für diese Bewegung lagen in zwei Faktoren:

  1. In der aufkommenden liberal-bibelkritischen Theologie, die die bisherige Ausrichtung des Protestantismus an der irrtumslosen Heiligen Schrift aufgab und unter dem Einfluß der Aufklärung und humanistischer Ideen ein neues, auf weltlicher Philosophie beruhendes religiöses System aufbaute. In diesem „liberalen“ Christentum stand der Mensch im Mittelpunkt; seine Selbstentfaltung sowie die Verbesserung der diesseitigen Lebensverhältnisse ersetzte das „alte Evangelium“ von der Errettung aus ewiger Verdammnis.

 

  1. In der Zuspitzung sozialer Konflikte in der aufstrebenden industriellen Gesellschaft und dem Aufkommen des Marxismus und Sozialismus. Der Aufstieg der marktwirtschaftlichen Unternehmen und die Anfänge der Industrialisierung erfolgten ohne soziale Absicherung der Arbeiter, was zu schlimmen Mißständen und zur Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten führte. Slums, Hunger, katastrophale familiäre und soziale Nöte, Alkoholismus gehörten damals in den ganz armen Schichten zur Tagesordnung, während die Oberschicht sich massiv bereicherte. Hier setzte die bewußt antichristliche marxistische Agitation ein, die die Unterschichten, das „Proletariat“ zum Aufstand und zum politischen Umsturz aufrief. Der Marxismus und der Sozialismus verfolgten ein konsequent humanistisches Programm zur Selbsterlösung der Menschen durch radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. „Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun, uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!“ So schallte es in den Versen der „Internationale“ durch die Straßen. Der Marxismus hatte beträchtlichen Einfluß auf die Bewegung des „Sozialen Evangeliums“, und das ist bis heute so geblieben.

 

Soziale Not und Armut hat es immer gegeben, solange die Gemeinde existiert. Schon das Römische Reich, in dem sie entstand, war geprägt von Zuständen, die heute als soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Armut und Verelendung großer Bevölkerungsteile bewertet würden. Aber die wahre Gemeinde hatte daraus nie ein „soziales Evangelium“ abgeleitet, weil die Heilige Schrift, der sie sich verpflichtet weiß, so etwas nirgends lehrt.

 

Die Vordenker des Sozialen Evangeliums

Unter dem Eindruck der tatsächlich schwerwiegenden sozialen Nöte des 19. Jahrhunderts begannen theologisch liberale Pastoren in den USA, die biblische Unterordnung der Gemeinde unter die bestehenden sozialen Ordnungen in Frage zu stellen. Sie forderten, daß sich die Kirchen aktiv für die Lösung sozialer Probleme einsetzen und die Ungerechtigkeiten in der Welt beseitigen sollten. Im Gegensatz zur biblischen Lehre lösten sie die Aussagen des Herrn in der Bergpredigt aus ihrem geistlichen Zusammenhang und erklärten sie zu einem ethischen Programm für die Welt, dessen Verwirklichung Gerechtigkeit und Frieden bringen würden. Zu den Vordenkern dieser Bewegung gehörten die protestantischen amerikanischen Pfarrer Washington Gladden (1836-1918), Josiah Strong (1847-1916) und Walter Rauschenbusch (1861-1918).

Washington Gladden wuchs in einer gläubigen Umgebung auf, erlebte jedoch selbst keine Bekehrung. Dennoch wollte er später Pastor werden und wurde früh beeinflußt von der sich damals rasch ausbreitenden liberal-bibelkritischen Theologie, die er später als einer ihrer führenden Sprecher verteidigte. Er war einer der einflußreichsten Pastoren seiner Zeit. In seinem Dienst erlebte er die sich verschärfenden sozialen Konflikte zwischen Kapital und Arbeit und entwickelte Lehren, die die „Ethik Jesu Christi“ auf die gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit anwenden wollten. Das war das Thema zahlreicher Bücher, die er zu sozialen Themen verfaßte. Er wollte das Reich Gottes hier auf Erden verwirklichen und glaubte, die Gebote Jesu Christi seien die Leitlinie für das soziale und politische Leben dieser Welt, und durch ihre Umsetzung könne die Welt immer christlicher werden.

Eine ähnliche Entwicklung nahm Walter Rauschenbusch, der eine Generation später der führende Sprecher der Social-Gospel-Bewegung war. Er war der Sohn lutherisch-pietistischer Eltern und strebte früh nach dem Pastorenamt. 1886 wurde er Prediger einer deutschen Baptistengemeinde in einem Elendsviertel New Yorks, das damals wegen seiner schlimmen sozialen Mißstände Hell´s Kitchen (Küche der Hölle) genannt wurde. Er beschäftigte sich mit der sozialen Frage und mit der liberalen Theologie, die ihn ab 1891 immer mehr prägte. Er kam zu der unbiblischen Überzeugung: „Das Königreich Gottes ist das erste und wesentlichste Dogma des christlichen Glaubens“; ihm ordnete er alles unter. Dabei leugnete er das kommende Königreich des Messias, das die Bibel lehrt, und meinte, die Kirche sei nur dafür da, das Königreich hier und jetzt auszubreiten. Er verstand dieses Königreich als „die Menschheit, die nach dem Willen Gottes organisiert ist“. Er glaubte an die evolutionäre Höherentwicklung der Menschheit: „Übersetze die Evolutionstheorien in den religiösen Glauben, und du hast die Lehre des Reiches Gottes“. Er schrieb mehrere sehr einflußreiche Bücher, die die Lehren des Sozialen Evangeliums popularisierten.

Die „Social-Gospel“-Bewegung hatte einen relativ starken Einfluß in den USA und Kanada zwischen ca. 1890 und 1920; danach ging ihr direkter Einfluß zurück, nicht zuletzt auch unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges und der nachfolgenden weltweiten Krisen, die den irregeleiteten Optimismus der Propheten des sozialen Evangeliums in bezug auf die gute Wesensart des Menschen und die baldige Verbesserung der Weltverhältnisse als Irrtum entlarvten. Dennoch setzt sich der irreführende geistliche Einfluß dieser Bewegung bis in die Gegenwart fort.

Das Gedankengut des „Sozialen Evangeliums“ prägt auch heute noch viele protestantische Großkirchen und insbesondere die weltweite ökumenische Bewegung. Der ökumenische „Weltrat der Kirchen“ hat es zu seiner Grundlage gemacht, was sich in zahlreichen Aktionen äußerte, von dem Verzicht auf die Aussendung westlicher Missionare bis hin zur Unterstützung militanter sozialistischer Befreiungsbewegungen. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten auch immer stärker unter den Evangelikalen ausgebreitet – sowohl in der Weltweiten Evangelischen Allianz wie auch der „Lausanner Bewegung“ und im deutschsprachigen Raum in vielen Allianzkreisen. Das äußert sich u.a. in der „Micha-Initiative“, die Christen zum sozialpolitischen Engagement für die Verwirklichung der Milleniumsziele der Vereinten Nationen aufruft. Nicht zuletzt prägt es heute die neu aufkommende emergente Bewegung (Emerging Church) und die mit ihr verwandten missionalen Gemeindebewegungen.

 

b) Das soziale Evangelium – humanistische Utopie und tödlicher Irrtum

 

In aller notwendigen Kürze wollen wir die Grundgedanken des Sozialen Evangeliums darstellen und uns dabei auf Aussagen zweier prominenter Sprecher aus den Anfängen der Bewegung stützen – Washington Gladden und Walter Rauschenbusch. Auch die heutigen Anhänger sagen im Prinzip nichts Neues und Anderes; die elementaren Leitsätze des Social Gospel sind dieselben geblieben.

 

Das Reich Gottes muß angeblich hier in dieser Welt gebaut werden

Eine grundlegende Annahme der Verfechter des Sozialen Evangeliums ist es, daß das Reich Gottes nicht etwas Zukünftiges sei, sondern hier und jetzt schon in dieser Welt verwirklicht werden müsse. Gladden schreibt:

Im weitesten Sinn des Wortes können wir sagen, daß das Reich Gottes der gesamte gesellschaftliche Organismus ist, insoweit er durch göttliche Einflüsse beeinflußt ist. (…) Wo immer Gesellschaft existiert, wo immer Menschen friedlich und in gegenseitiger Hilfe zusammenleben, findet das Leben, das in Christus Fleisch wurde, eine gewisse schwache Verwirklichung. In ihm wurde die Welt geschaffen, durch ihn wurde sie erlöst. Ich sage nicht daß sie erlöst werden wird, ich sage, daß sie schon erlöst worden ist. Diese Welt ist Christi Welt. Diese Welt ist nicht errettet (…) sie ist im Begriff, errettet zu werden. Das Werk, sie wieder zurückzuerobern und zu erneuern, ist immer im Gang. Das Menschengeschlecht ist erlöst, und es ist im Begriff, errettet zu werden (…) die Menschheit bewegt sich langsam vorwärts auf der Spur des großen göttlichen Ratschlusses. (Übers. hier wie im folgenden RE; Unterstreichungen RE)

Hier sehen wir die dialektisch begründete Täuschung dieser Theologen. Sie sehen das Reich Gottes mitten in dieser gottfeindlichen Welt am Wirken und meinen, es breite sich allmählich aus. Es wird auch deutlich, daß die Voraussetzung für solche Lehren eine angebliche Allversöhnung ist, während das Gericht Gottes über die Welt ganz ausgeblendet wird.

Das Reich der Himmel ist da, so wie der Frühling da ist, wenn die Krokusse sich öffnen (…) Es wird mehr folgen, aber der Frühling ist da. (…) Wir beten, daß es kommt, immer mehr, aber immer voller Dank und Lob für das, was bereits gekommen ist. Wenn es vollends gekommen ist, was wird es dann sein? Was werden wir sehen? Jeder Bereich des menschlichen Lebens – Familie, Schulwesen, Freizeitvergnügen, Kunst, Geschäftsleben, Weltpolitik, Industrie, nationale Maßnahmen, internationale Beziehungen – wird vom christlichen Gesetz regiert werden und von christlichen Einflüssen beherrscht werden. (…) Wofür wir beten und arbeiten, wenn wir für das Kommen des Reiches der Himmel beten und arbeiten, das ist die vollständige Christianisierung des ganzen Lebens. (zit. n. Handy, The Social Gospel in America, S. 103-104)

Hier wird die unbiblische Utopie des Sozialen Evangeliums offen ausgesprochen. Gladden meint, das Reich der Himmel sei „wie der verborgene Sauerteig, schon hier und lebt und wirkt auf der Erde“ (Social Gospel, 105). Die Kirche betrachtete er als dem Reich Gottes untergeordnet: „Das Reich der Himmel ist der gesamte gesellschaftliche Organismus in seiner völligen Vollkommenheit; die Kirche ist eines seiner Organe“ (Social Gospel, 105).

Rauschenbusch sagte einst in einer Ansprache vor einem CVJM:

Das Reich Gottes, lieber Freund, ist ein gesellschaftliches Konzept. Es ist ein Konzept für dieses unser Leben hier, denn Jesus sagt: ‚Dein Reich komme, dein Wille geschehe‘ hier. Es ist etwas, das sich hier auf der Erde befindet, das in der Stille die ganze Menschheit durchdringt, das immerzu hinwirkt auf das vollkommene Leben Gottes. Es kann nicht alleine ausgelebt werden – du mußt es mit mir zusammen ausleben, und mit dem Bruder, der neben dir sitzt. Wir müssen es zusammen verwirklichen. Es ist eine Angelegenheit des Gemeinschaftslebens. Die vollkommene Gemeinschaft der Menschen – das wäre das Reich Gottes! (Social Gospel, 267)

 

Die Kirche ist angeblich verpflichtet, der Welt zu dienen und sie christlicher zu machen

Konsequenterweise wird die Kirche ganz der innerweltlichen Reichsverwirklichung untergeordnet; ihre Berufung als heilige Priesterschaft für Gott wird dagegen unterschlagen. Gladden vergleicht die Kirche (damit meint er die äußerliche, namenschristliche Weltkirche) mit dem Gehirn, das eine wichtige Rolle im sozialen Organismus der Menschheit bzw. des Reiches Gottes einnimmt, aber auch von ihm abhängig ist.

Das Leben und die Gesundheit des Gehirns können nur verwirklicht werden, wenn es dem ganzen Körper dient. Genau auf dieselbe Weise ist die Kirche mit allen anderen Bereichen der menschlichen Gesellschaft verbunden. Deren Leben ist ihr Leben, sie kann nicht getrennt von ihnen leben; sie lebt von dem, was sie ihnen gibt; sie hat weder Bedeutung noch Daseinsberechtigung außer durch das, was sie tut, um das Geschäftsleben und die Politik zu beleben und geistlich zu prägen, den Unterhaltungssektor, Kunst, Literatur und Erziehung, und jedes andere Interessengebiet der Gesellschaft. In dem Moment, wo sie sich zurückzieht und versucht, einen selbstgenügsamen kleinen Gemeindebetrieb zu eröffnen, mit ihren eigenen Interessen, ihrem eigenen Gottesdienst, mit eigenen Maßstäben und Empfindungen und Freuden, in dem Moment, wo sie anfängt, die Menschen zu lehren, daß sie religiös sein sollen um des Religiösseins willen – in dem Moment wird sie tot und verflucht, sie ist schlimmer als nur nutzlos; sie ist eine tödliche Plage und ein Pesthauch für die ganze Gesellschaft, in der sie sich befindet. (Social Gospel, 106)

Das sind starke Worte; dieser verweltlichte liberale Theologe hat einen ausgesprochenen Haß auf die von der Welt abgesonderte wahre Gemeinde, wie sie die Bibel uns zeigt. Er kann der Gemeinde keine andere Existenzberechtigung zuerkennen als alleine Dienstmagd der Welt zu sein, in der Welt aufzugehen und sie mit religiösem Getriebeöl zu versorgen. Rauschenbusch schreibt in seinem Buch A Theology for the Social Gospel:

Weil das Königreich das höchste Ziel Gottes ist, muß es auch der Zweck sein, für den die Kirche existiert. Das Maß, in dem sie diesen Zweck erfüllt, ist auch das Maß ihrer spirituellen Autorität und Ehre. Die Institution der Kirche, ihre Aktivitäten, ihr Gottesdienst und ihre Theologie müssen letzten Endes aufgrund ihrer Effektivität bei der Erschaffung des Reiches Gottes bewertet werden. (…) Das Reich Gottes ist nicht auf die Grenzen der Kirche und ihre Aktivitäten beschränkt. Es umfaßt die Ganzheit des menschlichen Lebens. Es ist die christliche Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung. Die Kirche ist eine gesellschaftliche Einrichtung neben der Familie, der industriellen Organisation der Gesellschaft, und des Staates. Das Reich Gottes ist in und verwirklicht sich durch alle diese Einrichtungen. (Theology, 143-145)

 

Die Kirche ist angeblich verpflichtet, in dieser Welt für mehr soziale Gerechtigkeit einzutreten

Die Verfechter des Sozialen Evangeliums vertraten die Meinung, es sei die Aufgabe der Kirche, sich aktiv und energisch für die Interessen der Armen einzusetzen und für mehr soziale Gerechtigkeit in der weltlichen Gesellschaft zu kämpfen. Sie schmiedeten Pläne für die soziale Reform der kapitalistischen Gesellschaft. Gladden etwa setzte sich nicht nur für gerechte Entlohnung der Arbeiter ein, sondern meinte, die soziale Frage müsse durch eine genossenschaftliche Selbstorganisation der Arbeitenden geregelt werden; die Arbeiter selbst sollten ihre Ersparnisse zusammenlegen und kooperative Unternehmen bilden, deren Eigentümer sie seien. So meinte er, die Mißstände seiner Zeit reformieren zu können (Social Gospel, 45-47).

Doch solche humanistisch inspirierten Pläne, wie sie damals von vielen vorgebracht wurden, scheiterten in aller Regel am Egoismus, Machtmißbrauch oder der Unfähigkeit der Betroffenen zu unternehmerischer Führung. Entweder solche Kooperativen gingen bald ein, oder sie entwickelten sich zu schlagkräftigen kapitalistischen Unternehmen, die sich kaum von ihren privat geführten Konkurrenten unterschieden. Der „reale Sozialismus“ des 20. Jahrhunderts machte schließlich vollends deutlich, daß alle Vergesellschaftungspläne und andere Sozialreformen keine wirkliche Besserung bringen, solange der sündige Mensch sein eigensüchtiges, begehrliches, verdorbenes Herz behält. Von irgendeiner Verwirklichung des „Reiches Gottes“ sind solche Maßnahmen in jedem Fall weit entfernt.

Rauschenbusch meinte, die Entfaltung des „Reiches Gottes“ auf Erden beinhalte auch „die Erlösung der Gesellschaft von autokratischen politischen Systemen und wirtschaftlichen Oligarchien“ (Theology, 143). Er entwickelte unter dem Motto „praktischer Sozialismus“ ein soziales Reformprogramm für die amerikanische Gesellschaft, das u.a. folgende Maßnahmen einschloß: Grundsteuern, Umwandlung von Monopolen wie Wasser-, Strom- und Gasversorgung in öffentlich-städtisches Eigentum; öffentliche Bibliotheken, Museen, Spielplätze und Bäder für die Bevölkerung; gewerkschaftliche Organisation der Arbeitnehmer; Arbeitsgesetzgebung mit Begrenzung der Arbeitszeit und verbesserten Arbeitsbedingungen, Verbot der Kinderarbeit (Social Gospel, 321).

Solche Maßnahmen mögen durchaus sinnvoll sein für eine wirksamere Organisierung der weltlichen Gesellschaft und einen maßvollen Interessenausgleich unter den verschiedenen sozialen Kräften. Kein gläubiger Christ wird sich gegen solche Maßnahmen empören oder sie kritisieren. Sie sind heute in Deutschland und vielen anderen Ländern längst umgesetzt. Aber hat dies wirklich das „Reich Gottes“ vorangebracht? Haben die Menschen unter der Wirkung dieser Maßnahmen eine größere Anerkennung der Bibel und des Herrn Jesus Christus entwickelt? Wir alle wissen, daß dies nicht der Fall ist.

 

Die persönliche Errettung wird umgedeutet und einer sozialpolitischen „kollektiven Errettung“ untergeordnet

Gladden, Rauschenbusch und viele anderen Verfechter des Sozialen Evangeliums plädierten für eine „weitere“ Vorstellung von Errettung, die die „soziale Errettung“ von Ausbeutung und Ungerechtigkeit, von ungerechten Gesellschaftsstrukturen mit einschließen müsse. Dabei wurden sie nicht müde, zu betonen, daß sie die Botschaft von der persönlichen Errettung des Einzelnen nicht völlig ablehnten. Bei aller bibelkritischen Liberaltheologie bemühten sie sich, Bekenntnisse ihrer „persönlichen Frömmigkeit“ einzuflechten und zu beteuern, daß ihnen das Heil der Seelen auch am Herzen läge.

Im Endeffekt aber bedeutet das Soziale Evangelium zugleich eine grundlegende und massive Umdeutung und Verfälschung der biblischen Botschaft von der Rettung des einzelnen Menschen. Das soziale Evangelium hat eben den Humanismus der liberalen Theologie zur Grundlage; es geht davon aus, daß der Mensch kein verdorbener, in Sünden toter Rebell ist, sondern ein im Kern gutes und gottähnliches Wesen, das lediglich gewisse sündhafte Schwächen und Unvollkommenheiten ablegen müsse, um vor Gott bestehen zu können. Das Soziale Evangelium leugnet die Sündenverderbnis des Menschen genauso wie das Zorngericht Gottes über die Sünde und das stellvertretende Sühnopfer des Herrn Jesus. Wenn diese Liberalen von „Errettung“ sprechen, dann meinen sie etwas völlig anderes als ein bibelgläubiger Christ.

Gladden etwa greift das Evangelium von der persönlichen Errettung nicht frontal an, sondern er deutet es geschickt und dialektisch um, indem er behauptet, der Einzelne könne gar nicht gerettet werden, wenn die Gesellschaft nicht gerettet sei. Damit widerspricht er natürlich direkt der Bibel, in der wir etwa den Aufruf des Apostels Petrus lesen: „Laßt euch retten aus diesem verkehrten Geschlecht!“ (Apg 2,40).

Dennoch ist das Evangelium sehr unvollkommen aufgenommen worden, wenn es keine andere Botschaft vermittelt hat als die der persönlichen Errettung. In Wahrheit ist nämlich der Einzelne erst dann errettet, wenn er in die richtige Beziehung zu der Gemeinschaft gebracht wurde, in der er lebt. Die Herstellung dieser richtigen Beziehungen unter den Menschen ist gerade das Werk, für dessen Verwirklichung Christus kam. Das individuelle Evangelium und das soziale Evangelium stehen deshalb in wesensmäßiger Beziehung zueinander und sind untrennbar verbunden. Die Errettung kann genausowenig zum einzelnen Menschen getrennt von der Gemeinschaft kommen, wie Leben zur Rebe kommen kann, wenn sie vom Weinstock getrennt ist. (Social Gospel, 141-142).

Für die wahren Gläubigen ist der Weinstock Christus; hier aber wird die biblische Wahrheit so verdreht, daß die menschliche Gesellschaft der Weinstock ist und der einzelne Mensch eine Rebe. Nach dieser absurden Lehre wäre bis heute noch kein einziger Mensch errettet worden, weil die menschliche Gesellschaft, in der wir leben, ja noch alles andere als „errettet“ ist. Nach der Lehre des Apostels Paulus aber hat uns Gott herausgerettet aus dem gegenwärtigen bösen Weltlauf (Gal 1,4).

Das falsche humanistische „Evangelium“ der liberalen Sozialreformer wird deutlich in der verführerischen Lehre von der Vaterschaft Gottes in bezug auf alle sündigen Menschen, die pauschal als „Kinder Gottes“ bezeichnet werden, und die damit verbundene Lehre von der „Bruderschaft aller Menschen“.

Wir haben ein besseres Verständnis [!] des Evangeliums von Jesus. Die Vaterschaft Gottes, die Bruderschaft der Menschen, der Wert der einzelnen Seele, Größe durch Dienen, Rettung durch Opfer, das Reich Gottes als das Ziel der Menschheit – diese Wahrheiten, so unerschöpflich in ihrem Reichtum und ihrer Frische, werden als sein (Jesu) besonderer Beitrag zum religiösen Denken der Menschheit angesehen. (Social Gospel, 162)

… die heutige [modern-liberale – RE] Theologie hat zu einer sehr weiten Auffassung von Jesus Christus und seinem Werk gefunden. Aber sie erreichte diese inspirierende Überzeugung durch die Entdeckung, daß die große Kluft, welche die traditionelle Theologie zwischen dem Menschen und Gott festgelegt hat, nicht existiert, daß das Menschliche und das Göttliche keine gegensätzlichen Naturen sind. Die grundlegende Tatsache ist, daß Gott unser Vater ist und wir seine Kinder. (…) Wenn irgend etwas klar ist, dann, daß die Kinder dieselbe Natur haben müssen wir ihr Vater. Alles wesensmäßig Menschliche ist in der Natur Gottes eingeschlossen; alles wesensmäßig Göttliche findet man in der Natur des Menschen. (Social Gospel, 162)

Ähnliche Überzeugungen äußert auch Rauschenbusch. Geschickt fängt er seine Argumentation damit an, daß er behauptet, noch niemand habe das Evangelium von Christus völlig verstanden und richtig verkündet; jede Generation müsse wieder neu das Evangelium für sich konstruieren. Dabei müsse das Evangelium sich verändern, wenn die Zeiten und die Denkweise der Menschen sich veränderten: „Wenn das Evangelium über einem Zeitalter Macht haben soll, dann muß es der höchste Ausdruck der moralischen und religiösen Wahrheiten sein, die dieses Zeitalter anerkennt. Wenn es hier zurückbleibt und veraltete Vorstellungen vom Leben und unserer Pflicht verkündet, ist es nicht mehr das Evangelium im vollen Sinn des Wortes“ (Social Gospel, 324).

In seinem Buch A Theology for the Social Gospel schreibt Rauschenbusch: „Wo immer das Reich Gottes eine lebendige Wirklichkeit im christlichen Denken ist, wird jeder Fortschritt der sozialen Gerechtigkeit als Teil der Erlösung angesehen und ruft innere Freude und das triumphierende Gefühl der Errettung hervor“ (Theology, 136-137).

Rauschenbuschs Gedanken ähneln in vielem überraschend deutlich den Argumenten der heutigen Anhänger der Emerging Church. Wie sie verwandelt er das ewige, von Gott festgesetzte und dem Apostel Paulus ein für allemal geoffenbarte Evangelium von Christus in eine jederzeit veränderbare Botschaft, die jeweils der höchste Ausdruck des religiösen Empfindens der Menschen sein soll. Neue Zeiten, neue Bedürfnisse verlangen ein neues Evangelium – heutzutage eben ein „soziales Evangelium“. Dann kann er neutral-beschreibend von seinen Zeitgenossen feststellen:

Gute Menschen [!] widmen ihrer persönlichen Errettung weniger Aufmerksamkeit als unsere Väter, aber ihr Mitgefühl für die Sorgen anderer ist geschärfter (…) Wir können uns der Tatsache nicht verschließen, daß der alte ‚Heilsplan‘ mechanisch und weit entfernt erscheint. (…) Wir stehen stark unter dem Eindruck kommender großer Veränderungen, der von einem besseren Wissen über die Möglichkeiten der Menschheit zur Anpassung erzeugt wird. Wir haben eine neue Hoffnung für die Menschheit … (Social Gospel, 326)

Schon Rauschenbusch verwendet den Begriff „emerging“ (Social Gospel, 325) und spricht von einem „neuen Zeitalter“ (new age); er schwärmt: „Das neue Leben durchdringt die alte Menschheit und transformiert sie“ (332-333). Es gibt also auch hier nichts Neues unter der Sonne.

 

Der Sauerteig des „Sozialen Evangeliums“ wirkt heute noch weiter

Die Bewegung des „Sozialen Evangeliums“ erlebte massive Rückschläge als Folge des Ersten Weltkrieges und den Krisenzeiten danach. Ihre unbiblischen Utopien von einer baldigen Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden und der bevorstehenden Christianisierung der ganzen Welt erwiesen sich angesichts der harten Wirklichkeit als unwahr und untauglich. Nach dem Ersten Weltkrieg und in der Weltwirtschaftskrise von 1929 zeigte sich, daß die Massen im „christlichen Abendland“ eher radikal antichristlichen Volksverführern wie Hitler oder Lenin nachliefen, als daß sie sich dem aufgeklärten solidarischen Sozialchristentum zuwandten, das die Sprecher der Social-Gospel-Bewegung verkündeten.

Selbst innerhalb der liberaltheologischen Großkirchen ging der Trend eher zu den etwas skeptischeren und realistischeren Lehren eines Karl Barth und seiner „neo-orthodoxen“ Schule. Diese vertrat zwar ebenfalls Bibelkritik und fundamentale Falschlehren, doch sie war etwas skeptischer in bezug auf die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden und trug der offenbar gewordenen Sündhaftigkeit und Verführbarkeit der Menschen etwas mehr Rechnung.

Dennoch wurden die unbiblischen Grundgedanken des Sozialen Evangeliums auch nach dem Abebben der eigentlichen Bewegung weitergeführt. In den liberalen Großkirchen wie auch besonders im Ökumenischen Weltrat der Kirchen wurde und wird nach wie vor verkündet, man müsse das Reich Gottes auf Erden verwirklichen und sich für die politische Veränderung der Welt nach den Maßstäben der biblischen Ethik einsetzen. Nur wird die Verwirklichung nicht mehr so naiv als bald anstehend dargestellt; man betont, daß die endgültige Verwirklichung des Gottesreichs wohl erst in fernerer Zukunft, vielleicht erst beim Kommen des Christus geschehen könne.

Doch auch diese etwas abgeschwächte Spielart des Sozialen Evangeliums ist grundfalsch und verführerisch. Sie leitet die Menschen von der ewigen Errettung aus Schuld und Sünde weg und stellt ihnen das Ziel vor Augen, für „mehr Gerechtigkeit hier und jetzt“ zu kämpfen und diese gegenwärtige gottfeindliche Welt zu reformieren. Auch hier ist die unterschwellige Basis eine irreführende Auffassung von einer bereits geschehenen Errettung, durch die angeblich alle Menschen ohne Buße und Glauben schon mit Gott versöhnt seien. Gott baue sein Reich angeblich schon im Hier und Jetzt, in einer Welt, die scheinbar schon mit Gott versöhnt ist und nur noch immer mehr vom „Sauerteig“ des Gottesreiches durchdrungen werden muß.

Heute sind diese unbiblischen Lehren einflußreicher denn je; sie haben inzwischen auch die Evangelikalen weitgehend von ihrer früheren biblischen Überzeugung abgebracht und kommen weltweit durch die „Linksevangelikalen“, durch die von ihnen dominierte Lausanner Bewegung und im deutschsprachigen Bereich besonders durch die missional-emergenten Kreise immer mehr in den Vordergrund. Darauf werden wir im folgenden noch näher eingehen.

 

 

c) Eine biblische Bewertung des „Sozialen Evangeliums“

 

Wenn wir das Soziale Evangelium mit dem vergleichen, was wir aus der Heiligen Schrift über das echte Evangelium und die Stellung der Gemeinde Gottes in dieser Welt wissen, dann erkennt der bibelgläubige Christ rasch, daß es sich hier um unvereinbare Gegensätze handelt. Das echte Evangelium verheißt demjenigen Errettung vom ewigen Tod und dem Zorngericht Gottes, der sich bekehrt und an den Herrn Jesus Christus glaubt. Die Grundlage für diese Errettung ist das stellvertretende Sühnopfer des Herrn Jesus Christus, der als der Sohn des lebendigen Gottes um unseretwillen Mensch wurde und unsere Sündenschuld auf sich nahm, um am Kreuz die Strafe zu tragen, die wir eigentlich verdient hätten. Durch Sein für uns vergossenes Blut sind wir losgekauft vom ewigen Gericht der Hölle, das uns sonst getroffen hätte.

Durch den Glauben gehören wir nun Christus an; wir sind Kinder Gottes mitten in einem gottlosen, verkehrten Geschlecht, von dem wir durch das Kreuz und den Heiligen Geist abgesondert sind. Unser Leben, unsere Hoffnung, unser Erbteil und unser Bürgertum sind nunmehr im Himmel, wo der Christus ist, nicht mehr auf der Erde, wo der Satan als Fürst dieser Welt herrscht. Wir sind berufen, vor der Welt unser Zeugnis eines heiligen Lebens abzulegen und die wunderbare Rettungsbotschaft von Christus, dem gekreuzigten und auferstandenen Erlöser, weiterzusagen.

Wir leben als Fremdlinge ohne Bürgerrecht in dieser Welt und halten uns unbefleckt von ihren Interessenkämpfen und schmutzigen Händeln. Wir dienen den Menschen in Güte und Barmherzigkeit durch gute Werke, aber wir haben keinen Auftrag, diese Welt zu verbessern, die durch die Sünde und die Herrschaft des Teufels unrettbar im Bösen verstrickt und gefangen ist. Wir erwarten den Herrn Jesus Christus aus dem Himmel, der diese böse Welt richten und Seine Königsherrschaft des Friedens und der Gerechtigkeit aufrichten wird.

 

Die Irreführung durch das Soziale Evangelium

Das „Soziale Evangelium“ dagegen ist ein Betrug, weil es niemanden wirklich rettet. Es beruht wesensmäßig auf der Lüge, daß die Menschen eigentlich keine völlig verderbten Sünder seien, sondern durch die Sünde nur beeinträchtigt, aber zur Besserung und allmählichen Höherentwicklung fähig. Es beruht weiterhin auf der Lüge, daß durch Christus irgendwie alle schon versöhnt seien und bereits Kinder Gottes wären, auch ohne Buße und persönlichen Glauben an den Herrn Jesus Christus, ohne Geburt von oben und die Heiligung des Geistes.

Die Bibel dagegen bezeugt sehr deutlich, daß der Mensch völlig durch die Sünde verderbt ist und nichts Gutes hervorbringen kann:

Sie sind alle abgewichen, sie taugen alle zusammen nichts; da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer! (Röm 3,12)

 … auch euch, die ihr tot wart durch Übertretungen und Sünden, in denen ihr einst gelebt habt nach dem Lauf dieser Welt, gemäß dem Fürsten, der in der Luft herrscht, dem Geist, der jetzt in den Söhnen des Ungehorsams wirkt; unter ihnen führten auch wir alle einst unser Leben in den Begierden unseres Fleisches, indem wir den Willen des Fleisches und der Gedanken taten; und wir waren von Natur Kinder des Zorns, wie auch die anderen. (Eph 2,1-3)

Die Bibel zeigt auch sehr klar, daß der sündige Mensch als Feind Gottes nur durch Herzensumkehr und Glauben an den Herrn Jesus Christus aus dem sicheren Zorngericht errettet werden kann. Das Sühnopfer Jesu Christi wird nur wirksam durch persönlichen Glauben; wer nicht glaubt, bleibt unter dem Zorn. Dazu seien nur auswahlweise einige Schriftstellen angeführt:

Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes geglaubt hat. (Joh 3,18)

Wer an den Sohn glaubt, der hat ewiges Leben; wer aber dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm. (Joh 3,36)

Denn es ist kein Unterschied; denn alle haben gesündigt und verfehlen die Herrlichkeit, die sie vor Gott haben sollten, so daß sie ohne Verdienst gerechtfertigt werden durch seine Gnade aufgrund der Erlösung, die in Christus Jesus ist. Ihn hat Gott zum Sühnopfer bestimmt, [das wirksam wird] durch den Glauben an sein Blut … (Röm 3,22-25)

Denn aus Gnade seid ihr errettet durch den Glauben, und das nicht aus euch – Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme. (Eph 2,8-9)

Die Errettung ist im Neuen Testament etwas zutiefst Persönliches und Individuelles; kein Mensch kann für den anderen umkehren und glauben, jeder muß es für sich selbst tun. „So wird also jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben“ (Röm 14,12). Jeder einzelne Sünder muß sich von seiner Bosheit bekehren, um das Heil zu empfangen (vgl. Apg 3,26).

 

Das Gericht Gottes über diese Welt

Diese Welt steht unter dem Gerichtsurteil Gottes wegen ihrer Rebellion und Sünde; auf sie wartet das Verderben, und Verderben herrscht bereits jetzt durch die Begierde in ihr. Der einzelne Gläubige ist durch seine Bekehrung und den Glauben an Christus diesem Verderben und den Befleckungen der Welt entflohen (vgl. 2Pt 1,4; 2,20; Jak 1,27). Er überführt nunmehr die Welt durch seinen heiligen, gottesfürchtigen Wandel, indem er nicht mehr mitläuft in dem heillosen Sündenschlamm dieser Welt (1Pt 4,4). Aber mit keinem Wort wird im Neuen Testament gelehrt, die Gläubigen sollten sich für Sozialreformen einsetzen oder diese böse Welt zu „verbessern“ suchen.

Es steht für die Bibel außer Frage, daß Sünde auch eine gesellschaftliche Dimension hat. Jede Sünde ist für den Einzelnen zunächst eine Sünde gegen Gott, seinen Schöpfer; Sünde bedeutet Übertretung der Gebote Gottes, Auflehnung gegen Gott, selbstsüchtige Versklavung unter die eigenen Begierden statt unter den Willen Gottes. Aber viele Sünden richten sich auch gegen andere Menschen, gegen die eigenen Familienangehörigen und Nachbarn, gegen den Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, gegen die Obrigkeit oder gegen die Armen.

Gemessen an dem vollkommenen Gesetz Gottes ist jede menschliche Sozialordnung sündig und ungerecht – Sklaverei und Lehnsknechtschaft genauso wie Kapitalismus oder Sozialismus. Auch jede Regierung bzw. Obrigkeit ist vor Gott sündig und ungerecht, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. In Seinen Botschaften an die jüdischen Jünger, die in den Evangelien aufgezeichnet sind, spricht der Herr Jesus viel vom Reich Gottes bzw. Reich der Himmel, in dem eine andere Gerechtigkeit herrschen wird. Damit ist zunächst und vor allem das kommende messianische Friedensreich auf Erden gemeint, das der Herr Jesus als der Messias aufrichten wird, und an dem die jüdischen Gläubigen wie auch die Gemeinde Gottes Anteil haben werden.

Innerhalb der Gemeinde, unter den Christusgläubigen sollen die Grundsätze dieses kommenden Reiches schon heute praktiziert werden; denn die Gemeinde ist die verborgene Gestalt des Reiches Gottes in der heutigen Weltzeit (vgl. den nächsten Abschnitt). Aber nirgends sagt der Herr oder lehren die Apostel, daß diese Grundsätze in der gegenwärtigen bösen Weltzeit bereits in der Welt, unter den Ungläubigen Anwendung finden sollten oder auch könnten. Deshalb sagte unser Herr ja ausdrücklich:

Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wäre mein Reich von dieser Welt, so hätten meine Diener gekämpft, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde; nun aber ist mein Reich nicht von hier. (Joh 18,36)

Solange die Menschen unter der Macht der Sünde stehen, verderbt in den Begierden ihres Fleisches, verfinstert am Verstand (Eph 4,17-19), können sie gar nicht nach den Grundsätzen des Reiches Gottes handeln; das setzt den von neuem geborenen Gläubigen voraus. Der Fleischesmensch kann gar nicht Gottes Gebote befolgen, wie die Schrift klar bezeugt:

Denn das Trachten des Fleisches ist Tod, das Trachten des Geistes aber Leben und Frieden, weil nämlich das Trachten des Fleisches Feindschaft gegen Gott ist; denn es unterwirft sich dem Gesetz Gottes nicht, und kann es auch nicht; und die im Fleisch sind, können Gott nicht gefallen. (Röm 8,6-8)

Deshalb hat die Gemeinde keinen Auftrag, diese im Bösen liegende Welt zu verbessern oder nach christlichen Grundsätzen zu reformieren. Sie nimmt die von den jeweils Mächtigen vorgegebene soziale Ordnung hin, ordnet sich ihr unter und bezeugt in ihr die herrliche Botschaft von der Begnadigung des Sünders in Christus. Ihre gesellschaftliche Hoffnung dagegen ist ausschließlich zukünftig; sie bezeugt, daß allein der kommende Christus dieser Welt Frieden und Gerechtigkeit bringen wird. Jeder Versuch, dies mit stümperhaften, zum Scheitern verurteilten Reformen schon jetzt vorwegzunehmen, würde die Kraft der biblischen Christusbotschaft und Christushoffnung brechen und die Gemeinde in die schmutzigen, auf allen Seiten von sündigen Interessen geprägten Machtkämpfe dieser Welt verstricken.

Das Soziale Evangelium ist deshalb betrügerisch und geht von einem völlig unbiblischen Lehrgebäude aus. Es setzt die Fähigkeit des natürlichen Menschen zur Selbstvervollkommnung voraus und verleugnet die völlige Sündenverderbnis des Menschen. Es ist im Kern eine humanistische Weltanschauung, d.h. es erklärt den Menschen als im Kern gut und macht ihn anstatt Gott zum Maß aller Dinge. Es leugnet die prophetische Aussage der Bibel, daß diese Welt immer weiter zum Bösen und zur Gesetzlosigkeit voranschreiten wird, bis zur Offenbarung des Antichristen, auf die dann das schreckliche, blutige Zorngericht Gottes über alle gottlosen und sündigen Menschen erfolgt (vgl. u.a. 2. Thessalonicher; 1Thess 5,1-3; 2. Petrus 3). Stattdessen verbreitet es den verhängnisvollen Irrtum, daß der Tag des Herrn niemals käme (vgl. 2Pt 3,3-7), sondern daß die Welt auf dem Weg evolutionärer Höherentwicklung immer besser und Gott wohlgefälliger werden könne.

Damit ist es im Kern eine anti-christliche Ideologie; denn alles, was dem Menschen vorgaukelt, er selbst könne durch gute Vorsätze und eifriges Bemühen etwas Gutes schaffen und ohne Christus die Mißstände dieser Welt beseitigen, lenkt Wasser auf die Mühlen des Antichristen, der genau ein solches Programm zur Weltverbesserung vorlegen wird. In der Zeit des Antichristen wird „Friede und Sicherheit“ eine verbreitete Parole sein (vgl. 1Thess 5,3).

 

Auszug aus dem Buch von Rudolf Ebertshäuser: Soll die Gemeinde die Welt verändern? Das „Soziale Evangelium“erobert die Evangelikalen, S. 71-97.