Wenn auch die gläubige Gemeinde im überlieferten Text der Reformation einen festen Felsengrund ihres Glaubens gefunden hatte, so blieb diese von Gott bewahrte Textüberlieferung doch nicht unangefochten. Die Reformatoren hatten mit ihrem biblischen Grundsatz „Sola Scriptura – Allein die Schrift!“ den Machtanspruch der römischen Päpste und das Diktat ihrer Menschenüberlieferungen überwunden.

Die Taktik der Verteidiger der römischen Kirche im 16. und 17. Jh. bestand u. a. darin, daß sie mit den abweichenden Textformen der alexandrinischen Handschriften argumentierten, um den Reformatoren zu sagen: „Ihr habt doch gar keine zuverlässige Grundlage für Eure Lehre; es gibt ja so viele unterschiedliche Textformen – Ihr braucht die Tradition und das Lehramt der Kirche, um eine feste Grundlage zu bekommen!“ Die Antwort der evangelischen Gläubigen war ihr Glaube an die Bewahrung Gottes – sie vertrauten darauf, daß Gott ihnen für ihre Lehre und ihren Glauben den zuverlässigen, bewahrten Text an die Hand gegeben hatte, während sie die abweichenden Textformen etwa der Vulgata oder des Codex Vaticanus als unzuverlässig zurückwiesen.

Im 17. und 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung und des Rationalismus, begannen einzelne Gelehrte, den Textus Receptus in Frage zu stellen und ihm abweichende Textformen vorwiegend aus alexandrinischen Handschriften entgegenzustellen. Sie bestritten die Zuverlässigkeit des überlieferten Textes der Reformation und brachten zahlreiche auf die alexandrinischen Handschriften gestützte „Verbesserungen“ zur Sprache. Unter ihnen war ein bekannter Pietist, Johann Albrecht Bengel.

Das führen heute noch manche Evangelikale zugunsten der Textkritik an. Sie erwähnen aber nicht, daß Bengel wie andere Pietisten seiner Zeit vom verführerischen Geist der Aufklärung nicht unbeeinflußt war und mit seinen unbiblischen Spekulationen über den Anbruch des Tausendjährigen Reiches und mit seiner Befürwortung der Allversöhnung kein vertrauenswürdiger Zeuge ist.

Die anderen Pioniere der Textkritik kommen direkt aus dem finsteren Lager der aufklärerischen Verleugner des Glaubens und der Heiligen Schrift. Der katholische Gelehrte Richard Simon (1638-1712) wird von manchen als der Begründer der wissenschaftlichen Textkritik angesehen, weil er die Bibel lediglich als literarisches Werk ansah und sie seinen Vernunftschlüssen unterwarf. Einer der ersten Vertreter der Textkritik, J. J. Wettstein, war nicht nur Gegner der Verbalinspiration, sondern wurde wegen seiner Verleugnung der Gottheit und des rettenden Sühnopfers Jesu Christi (Socinianismus) aus dem Pfarramt gejagt!

Der andere große Textkritiker des 18. Jahrhunderts, J. J. Griesbach, war Schüler und Anhänger von J. S. Semler, eines Wegbereiters der heutigen Bibelkritik und liberalen Theologie. Hier zeigt sich schon, worauf wir später noch einmal zurückkommen werden, daß nämlich die Bibelkritik und die Textkritik eine innere Verwandtschaft haben in der Infragestellung von Gottes Offenbarungswort. Es bleibt zu ergänzen, daß auch ein österreichischer Jesuit, F. K. Alter, zu den bahnbrechenden Vätern der modernen Textkritik im 18. Jh. zählt.

Das 19. Jahrhundert war eine spannungsreiche Zeit des geistlichen Umschwungs und in vieler Hinsicht eine Zeit des beginnenden geistlichen Niedergangs. Im 19. Jh. gingen die großen Erweckungsbewegungen zu Ende, auch wenn es weiterhin erweckliche Aufbrüche und segensreiche Entwicklungen gab. Es war die Zeit, in der überall in der Christenheit diejenigen an Einfluß gewannen, die die Bibel als Gottes Wort und den Herrn Jesus Christus als Sohn Gottes verleugneten. Der Abfall vom biblischen Glauben griff immer mehr um sich; die Anfänge vieler verführerischen Irrströmungen (Irvingianer / Neuapostolische, Adventisten, Zeugen Jehovas, Mormonen, Christliche Wissenschaft, Pfingstbewegung) regten sich. In vielen Bereichen wurden im 19. Jh. die Grundlagen für einen offenen Glaubensabfall und Niedergang im folgenden Jahrhundert gelegt.

In dieser Zeit kam – nicht überraschend – der Durchbruch für die Textkritik. Unter ihren führenden Vertretern waren K. Lachmann (ungläubiger Philologe), J. Scholz (katholischer Theologe), C. v. Tischendorf (von dem manche annehmen, daß er gläubig war), S. P. Tregelles (von dem dasselbe angenommen wird), B. F. Westcott und F. J. Hort (ungläubige, bibelkritische Anglikaner mit prokatholischen Neigungen) C. R. Gregory (der enge Verbindung zu unitarischen Leugnern der Gottheit Christi hatte) sowie Eberhard Nestle. Sie erklärten die alexandrinischen Handschriften, besonders den Codex Vaticanus und den Codex Sinaiticus, zu den besten Zeugen des ursprünglichen Textes und taten die gesamte byzantinische Mehrheitstextüberlieferung als unbrauchbar ab. Besonders der Textus Receptus wurde als „unwissenschaftlich“ und unzuverlässig verleumdet. Ihre Texte sind in vielem eine Rückkehr zu den Textverderbnissen der katholischen Vulgata, von denen die Reformatoren sich abgewandt hatten; sie wurden dann auch von der Katholischen Kirche als Bestätigung ihres Standpunktes gewertet.

Der Textus Receptus wurde zunächst in der akademischen Theologie verdrängt, dann auch in den Bibelübersetzungen. Die englische Revised Version von 1881 war die erste große Bibelübersetzung, die auf textkritischen Grundsätzen beruhte. Das Ziel der Revisoren, die beliebte King-James-Bibel zu ersetzen, wurde jedoch nie erreicht; die King-James-Bibel bleibt bis heute im englischen Sprachraum die am weitesten verbreitete und geschätzteste Bibelübersetzung.

Aber in der Folge wurden immer mehr reformatorische Bibelübersetzungen durch textkritische Revisionen verändert und auf den alexandrinischen Text umgestellt. Dem entsprachen im AT z. T. schwerwiegende Abweichungen vom Masoretischen Text. In Deutschland geschah dies erst 1956 in größerem Umfang; die Lutherbibel von 1912 beruht noch fast vollständig auf dem Textus Receptus. Die Revision der Zürcher Bibel erfolgte 1931; 1986 wurde die Elberfelder Bibel revidiert und fast komplett auf den Nestle-Aland-Text umgestellt. Die im Lauf des 20. Jh. immer zahlreicheren erscheinenden Neuübersetzungen hatten dann von vorneherein fast ausschließlich den kritischen Text.

Nachdem es im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrere textkritische Ausgaben des NT gegeben hatte, die sich untereinander an zahllosen Stellen widersprachen, kam es Mitte des 20. Jh. auf Betreiben der theologisch liberalen United Bible Societies zu einer weltweit einheitlichen Textausgabe, die seither die Grundlage fast aller neuen Bibelübersetzungen bzw. Bibelrevisionen ist: der sogenannte „Nestle-Aland“-Text (NA abgekürzt; im Englischen The Greek New Testament / UBS-Text).

Dieser Text wird seit 1966 von einem Gremium von ungläubigen, liberaltheologischen Textkritikern per Mehrheitsabstimmung festgelegt; darunter befindet sich ein Kardinal der Katholischen Kirche. Durch ein Abkommen des Vatikan mit den Weltbibelgesellschaften wurden 1968 Leitlinien festgelegt, die vorsehen, daß in sämtlichen Bibelübersetzungen, in der akademischen Lehre und in den Kirchen ausschließlich dieser NA-Text verwendet werden soll. Damit ist dieser Text, der immer noch die gnostisch-alexandrinischen Handschriften zur Hauptgrundlage hat, der ökumenische Welteinheitstext geworden!

Im englischen Sprachraum stieß die Umstellung auf den alexandrinischen Text bei vielen Gläubigen auf Widerstand, und eine relativ große Zahl ernsthafter Gläubiger hält bis heute bewußt an der King-James-Bibel und dem Textus Receptus fest. Dort gab es auch namhafte Gelehrte wie Burgon und Scrivener, die die unsauberen Methoden der alexandrinischen Textkritiker aufdeckten und die byzantinische Textgrundlage verteidigten. Dagegen erfolgte die Durchsetzung der kritischen Texte im deutschen Sprachraum, ohne daß es zunächst im größeren Maß bewußten Widerstand von Gläubigen gab. Wohl erkannten viele ältere Bibelleser, daß mit den Revisionen der Lutherbibel auch altvertraute und kostbare Bibelworte verschwanden bzw. verändert wurden, und viele ernsthafte Gläubige zogen die Luther 1912 den späteren Revisionen vor. Die geistlichen Hintergründe des Textus Receptus und der alexandrinischen Texte sind jedoch viel zu wenig bekannt.

Leider werden auch an Bibelschulen und unter bibeltreuen Gläubigen die Lehren der ungläubigen Textkritik vielfach als „neutral“ und wahr angenommen, ohne daß deren fragwürdiger geistlicher Hintergrund durchschaut worden wäre. Aber heute, in der ausreifenden Endzeit, wachen manche Gläubige auf und erkennen, daß unter dem harmlosen Etikett des „wissenschaftlichen Fortschritts“ Verfälschungen und Entstellungen in den Text der modernen Bibeln eingeführt wurden. Das Bewußtsein wächst auch bei uns, daß die modernen Bibeln nicht besser und zuverlässiger sind, sondern in vieler Hinsicht einen Rückschritt hinter die reformatorischen Übersetzungen darstellen, eine heimliche Umstellung der evangelischen Bibel auf den Text der Irrlehrer des 2. Jahrhunderts und der katholischen Kirche des Mittelalters.

 
 
 
Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus der ausführlicheren Schrift von Rudolf Ebertshäuser Der zuverlässige Text des Neuen Testaments. Der Textus Receptus und die Veränderungen in den modernen Bibeln.
 
 
 
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