Die von den „Freien Brüdergemeinden“ in Deutschland jährlich veranstaltete „Dillenburger Konferenz“ ist in manchem ein Spiegel der Entwicklungen in diesem einstmals entschieden bibeltreuen Verband unabhängiger Gemeinden. Leider haben sich die „Freien Brüder“ seit der Verabschiedung der noch recht geradlinigen älteren Generation von führenden Brüdern, unter denen mir besonders Dieter Boddenberg in guter Erinnerung ist, immer weiter in Richtung moderner Evangelikalismus und Evangelische Allianz entwickelt.

In meinem Buch Zerstörerisches Wachstum habe ich gezeigt, daß ein charismatisch-missional-bibelkritisch-„kulturrelevant“ ausgerichteter Flügel in diesem Gemeindeverbund immer mehr Einfluß gewonnen hat, der sich an dem verführerischen Vorbild des Forum Wiedenest orientiert und vor allem von Lothar Jung und der „Christlichen Jugendpflege“ gefördert wurde und vermutlich auch noch wird. Auch an manchen eingeladenen Rednern vergangener Konferenzen konnte man den Einfluß dieses Flügels erkennen.

Doch im Jahr 2022 ging von der Dillenburger Konferenz ein bisher meines Wissens noch nicht vorgekommenes Signal aus. Das Auftaktreferat der Konferenz am Freitagabend wurde Herrn Professor Dr. Hans-Joachim Eckstein übertragen, der zu dem ziemlich „kulturrelevant“ formulierten Thema sprach: „Evangelisation – wie begegnen wir den Menschen von heute in ihrer Religiosität und Spiritualität?“

Es stellt sich nun eine spannende Frage: Wie kommen die Verantwortlichen der „Freien Brüder“ dazu, als einen zentralen Redner und Impulsgeber dieser Konferenz einen bibelkritischen Theologieprofessor einzuladen, einen Ungläubigen oder besser Scheingläubigen, der eng mit der abgefallenen Evangelischen Kirche verbunden ist?

Professor Eckstein ist ja schließlich jahrelang Professor der Theologie (für das Fach Neues Testament) an den bedeutendsten Bollwerken der Historisch-Kritischen Theologie in Süddeutschland gewesen, nämlich an den Universitäten Heidelberg (1996-2001) und Tübingen (2001-2016). Er war 2004 – 2021 Mitglied der Kammer für Theologie der Evangelischen Kirche in Deutschland – ein Forum der Bibelkritik. Er wurde von den Vertretern der abgefallenen Welt hoch geschätzt und gelobt; 2022 hat er auf Vorschlag des Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland erhalten – als Anerkennung für seine „herausragenden Leistungen für das Gemeinwesen“.

Nun mag man einwenden, daß Professor Eckstein immer eine gewisse Nähe zum Pietismus und z. B. zur „Studentenmission in Deutschland“ gepflegt hat und bei vielen modernen Evangelikalen als Redner und Buchautor sehr beliebt ist. Ganz sicher ist er jemand, der die „wissenschaftliche Bibelkritik“ eher „gemäßigt“ betrieben hat und sie hinter einem frommen Jargon verbergen konnte, der viele heutigen Evangelikalen völlig zufriedenstellt, weil sie selbst nicht mehr wirklich bibeltreu sind. Viele heutige Evangelikale schätzen solche Vermischung von „Frömmigkeit“ und bibelkritischen Ansätzen, weil er ihrer Zukunftsvision entgegenkommt und weil sie längst schon ihren faulen Frieden mit der „gemäßigten Bibelkritik“ in den Allianzkreisen geschlossen haben.

In meinem Beitrag Konferenz der SMD: Theologieprofessor Eckstein verfälscht das Evangelium, der auf dieser Webseite veröffentlicht wurde, zeige ich anhand eines Vortrags von Prof. Eckstein, daß er die biblische Lehre vom stellvertretenden Sühnopfer des Herrn Jesus verkehrt und verfälscht. Es ist auch sicherlich kein Zufall, daß der Prediger Hans-Peter Royer in der 7. Auflage seines Buches Du mußt sterben, bevor du lebst, damit du lebst, bevor du stirbst!, in der er die biblische Lehre vom stellvertretenden Sühneleiden des Herrn ablehnt und völlig unbiblische Ansichten über das Sühnopfer des Herrn vertritt, im Vorwort besonders Professor Eckstein dankt, „der mir durch seine christuszentrierten und biblisch-theologischen Argumente half, so manchen Knoten in meinem Denken und Herzen zu lösen“.

Was hat die Verantwortlichen einer ehemals ausgeprägt bibeltreuen Gemeinschaft von Brüdergemeinden bewegt, einen solchen irreführenden Referenten einzuladen? Eines erscheint mir ziemlich sicher, obgleich ich ja kein „Insider“ bin: So etwas widerspricht den biblisch ausgerichteten Grundsätzen, denen die „Freien Brüder“ in früheren Zeiten gefolgt waren, vollständig und radikal; niemals wären die „alten Brüder“ auf den Gedanken gekommen, einen Theologieprofessor auf eine ihrer Konferenzen einzuladen. Ihr Mißtrauen gegen die akademische Theologie war tief verwurzelt und überaus berechtigt.

Aber nun sind eben „neue Brüder“ am Ruder, welche die Grundsätze der „Alten“ immer entschlossener aufweichen oder bisweilen einfach umstoßen. Aus der Sicht des missional-kulturrelevanten Flügels macht die Einladung von Professor Eckstein durchaus Sinn; so werden die durch die „enge Brüderlehre“ vorgeprägten Geschwister an der „Basis“ aufgelockert und bekommen „neue Horizonte“, andersartige Denkweisen vermittelt; „Vorurteile“ gegen die wissenschaftliche Theologie werden abgebaut; man kann so leichter ein „neues Paradigma“ einführen … Aus dieser Sicht ist die Einladung verständlich; man will das „verkrustete“ bibeltreue Erbe der alten Brüder aufbrechen und „dekonstruieren“ und Dinge „neu denken“, um Zug um Zug zu neuen, „kulturrelevanten“ Horizonten aufbrechen zu können.

Aber weshalb haben die noch etwas konservativeren Brüder in diesem Gemeindekreis nicht Widerstand geleistet? Ist ihnen nicht bewußt, daß sie damit die ihnen anvertraute Herde üblen verführerischen Einflüssen aussetzen? Sind sie nicht als Hirten in einer hohen, ernsten Verantwortung, da sie einmal Rechenschaft ablegen müssen für die ihnen anvertrauten Seelen (Hebr 13,17)?

So habt nun acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in welcher der Heilige Geist euch zu Aufsehern gesetzt hat, um die Gemeinde Gottes zu hüten, die er durch sein eigenes Blut erworben hat! Denn das weiß ich, daß nach meinem Abschied räuberische Wölfe zu euch hineinkommen werden, die die Herde nicht schonen; und aus eurer eigenen Mitte werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen in ihre Gefolgschaft. (Apg 20,28-30)

 

 

Veröffentlicht auf https://das-wort-der-wahrheit.de am 4. 2. 2023    © Rudolf Ebertshäuser