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Wir wollen nun zu einer wichtigen Bibelstelle zurückkommen, die, im rechten Licht gesehen, die Lehre vom Aufhören der Offenbarungs- und Wunderzeichengaben in der nachapostolischen Gemeinde unterstützt, die aber auch von manchen bibeltreuen, nichtcharismatischen Auslegern in einer anderen Weise gedeutet wurde und wird.

Wenn wir die Aussagen in 1. Korinther 13 im Zusammenhang mit den bisher betrachteten Bibelstellen genau untersuchen und auslegen, dann bestätigt dieses wichtige Kapitel des NT aus unserer Sicht, daß die Propheten- und Zeichengaben nach Gottes Ratschluß heute nicht mehr gegeben werden. Wenn auch unsere Auslegung dieser Stelle nicht zwingend ist, erscheint sie uns dennoch als die folgerichtigste Deutung, die den einzelnen Aussagen wie auch dem Gesamtzusammenhang am besten gerecht wird.

In dem einleitenden Abschnitt 1Kor 13,1-3 greift der Apostel Paulus noch einmal die Neigung der fleischlichen Korinther auf, mit ihren auffälligen Gaben wie Prophetie und Zungenreden zu prahlen und sich selbst um dieser Gaben willen in den Vordergrund zu stellen. Unter den Geschwistern war es zu Neid und Streitigkeiten wegen dieser Gaben gekommen.

Im 12. Kapitel hatte der Apostel sie daran erinnert, daß sie alle zu einem Leib gehörten, der durch das demütige, liebevolle Zusammenwirken der verschiedenen Gaben erbaut wurde, und daß Gott ihnen in Seiner Weisheit die richtigen Gaben zugeteilt hatte, so daß jeder Neid und jedes eigensüchtige Streben nach besonderen Gaben unrecht wäre:

Sind etwa alle Apostel? Sind etwa alle Propheten? Sind etwa alle Lehrer? Haben etwa alle Wunderkräfte? Haben alle Gnadengaben der Heilungen? Reden alle in Sprachen? Können alle auslegen? Strebt aber eifrig nach den vorzüglicheren Gnadengaben, und ich will euch einen noch weit vortrefflicheren Weg zeigen: (1Kor 12,29-31)

In dem folgenden Kapitel zeigt der Apostel nun, daß dieser vortrefflichere Weg die selbstlose Liebe ist, die ihnen sehr fehlte, und daß die vorzüglicheren Gnadengaben, die für die Erbauung der Gemeinde noch wichtiger waren als die im 12. Kapitel genannten, Glaube, Hoffnung und Liebe sind.

1 Wenn ich in Sprachen der Menschen und der Engel redete, aber keine Liebe hätte, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. 2 Und wenn ich Weissagung hätte und alle Geheimnisse wüßte und alle Erkenntnis, und wenn ich allen Glauben besäße, so daß ich Berge versetzte, aber keine Liebe hätte, so wäre ich nichts. 3 Und wenn ich alle meine Habe austeilte und meinen Leib hingäbe, damit ich verbrannt würde, aber keine Liebe hätte, so nützte es mir nichts! (1Kor 13,1-3)

Der Apostel greift gerade die besonders begehrten und auffälligen Gaben unter den in Kapitel 12 erwähnten heraus und zeigt mit einer gewollten Übertreibung und Zuspitzung, daß diese Gaben, selbst wenn man sie in einer gar nicht vorkommenden Steigerung besäße, dennoch ohne die Agape-Liebe nichts wären.

Das biblische Sprachenreden (12,10) bestand, wie der Apostel im 14. Kapitel zeigt (1Kor 14,21-22), in einer übernatürlichen Beherrschung heidnischer Fremdsprachen (Sprachen von Völkern, die den Israeliten fremd waren, vgl. Apg 2,7-11). Selbst wenn ein Gläubiger alle solchen Fremdsprachen und darüber hinaus sogar Sprachen der Engel beherrschte (wovon die Schrift nichts sagt und was dem Zeichencharakter der Sprachen nicht entspräche), dann wäre er dennoch ohne die Liebe hohl und unbrauchbar.

Selbst wenn ein Gläubiger die Gabe der Prophetie (12,8) in einem völlig übersteigerten Maß hätte, sodaß er alle Geheimnisse wüßte (was selbst der Apostel Paulus nicht für sich beanspruchte), selbst wenn er die Erkenntnisgabe (das „Wort der Erkenntnis“ in 12,8) im vollkommenen Maße besäße, wäre er dennoch ohne die Liebe nichts. Und auch wenn er den wunderwirkenden Glauben (12,9; eine deutliche Anspielung auf Mt 17,20 und 21,21) in einem aufsehenerregenden Ausmaß hätte, so wäre er dennoch ohne die Agape-Liebe nichts. Alle diese Aussagen sollen den Korinthern verdeutlichen, daß die Liebe die allervortrefflichste Gabe ist, nach der sie dringend streben sollten, weil sie daran großen Mangel hatten.

In dem nun folgenden berühmten Abschnitt Vers 4-7 wird die göttliche Agape-Liebe in eindringlicher Form geschildert. Es ist die selbstlose, schenkende Liebe Gottes, die der Herr Jesus Christus in so vollkommener Weise personifiziert hat, als Er auf Erden lebte. Diese Liebe steht in beschämendem Gegensatz zur Haltung der Korinther – und der so vieler fleischlich gesinnter Christen heute. Sie waren streitsüchtig – die Liebe ist langmütig und gütig. Sie waren neidisch – die Liebe neidet nicht. Sie prahlten und blähten sich gegenseitig auf – die Liebe tut das Gegenteil. Und so könnte man die wunderbaren Eigenschaften der Liebe weiter mit dem Versagen der Korinther in Kontrast setzen, aber das berührt unser Thema nur am Rande.

Im folgenden Abschnitt, der uns besonders interessiert, führt der Apostel sein Argument weiter. Nicht nur sind die von den Korinthern so fleischlich begehrten außerordentlichen Gnadengaben nichts ohne die Agape-Liebe, sie sind nach Gottes Absicht auch nur vorübergehend der Gemeinde gegeben, während die „vorzüglicheren Gnadengaben“ Glaube, Hoffnung und besonders die Liebe in der Gemeinde bleibend gegeben sind (V. 13).

8 Die Liebe hört niemals auf. Aber seien es Weissagungen, sie werden weggetan werden; seien es Sprachen, sie werden aufhören; sei es Erkenntnis, sie wird weggetan werden. 9 Denn wir erkennen stückweise und wir weissagen stückweise; 10 wenn aber einmal das Vollkommene da ist, dann wird das Stückwerk weggetan. (1Kor 13,8-10)

Paulus zeigt in Vers 8, daß die Gnadengabe der Weissagungen (gr. prophèteia), die er in 12,10 und 29 erwähnt hat, nicht für die Dauer in der Gemeinde gegeben wurde, sondern nach dem Willen Gottes zu einem künftigen Zeitpunkt weggetan würde (das gr. Wort kat-argeo kann bedeuten: „außer Wirksamkeit setzen, abschaffen, vernichten, beseitigen“). Gott selbst wird sie abschaffen, während Glaube, Hoffnung und Liebe bleiben – also ist sie weniger gewichtig als diese vorzüglicheren Gnadengaben, so argumentiert der Apostel.

Auch die Gabe der Sprachenrede (glossai = Zungen, Sprachen), über deren Mißbrauch Paulus im 14. Kapitel einiges sagen muß, würde aufhören (pauo). Hier wird ein anderes Wort gebraucht als bei der Prophetie. Die Gabe der Sprachenrede war ein Wunderzeichen, das sich an ungläubige Juden richtete, wie 14,21-22 zeigt. Es hörte, nachdem es seinen heilsgeschichtlichen Zweck erfüllt hatte, allmählich auf, wobei auch das natürlich von Gott, der alle Gaben souverän gibt und wegnimmt, verursacht war.

Auch die Erkenntnisgabe (gr. gnosis) wird von Gott einmal abgeschafft. Diesbezüglich gibt es weit verbreitete Mißverständnisse. Mit dieser Gnadengabe kann nicht die allgemeine geistliche Erkenntnis gemeint sein, denn diese Erkenntnis Gottes und Seiner Ratschlüsse wird niemals aufhören; sie wird im Gegenteil, wenn die Gemeinde mit Christus vereint in der Herrlichkeit ist (und das ist ja nach vielen Auslegern mit dem „Vollkommenen“ in V. 10 gemeint), sich erst voll entfalten.

Hier ist (wie auch im Vers 2) die in 12,8 erwähnte Offenbarungsgabe gemeint, das „Wort der Erkenntnis“ (od. „Erkenntnisrede“), die den frühen Gemeinden gegeben wurde, um ihnen Orientierung über Gottes Plan mit der Gemeinde und über Gottes Willen für ihr Leben zu vermitteln. Diese Erkenntnisrede wird durch dasselbe Tätigkeitswort „weggetan“ eng mit der Prophetie verbunden; beides sind Offenbarungsgaben, die einander offensichtlich ergänzten und beide nicht mehr nötig waren, sobald das „Vollkommene“ gekommen war.

In Vers 9 wird begründet, weshalb die beiden Offenbarungsgaben von Gott abgeschafft werden. Die Gläubigen praktizierten diese Gaben zur Zeit des 1. Korintherbriefes, und sie empfingen durch sie Weissagungen und Erkenntnisse, aber diese Weissagungen und Erkenntnisse hatten einen Mangel. Sie gaben den Gläubigen nicht ein klares Gesamtbild von Gottes Plan für die Gemeinde, sondern nur Bruchstücke (w. Teile; gr. ek merous = teilweise, bruchstückhaft).

Wir könnten ihre Informationsqualität mit einem Puzzlebild vergleichen, bei dem von 1000 Teilen nur 500 willkürlich verteilt verfügbar sind; versucht man sie zusammenzufügen, dann entstehen Teileindrücke, kleine Bildflächen, aber das Gesamtbild ist nicht klar erkennbar. Dieser bruchstückhafte Charakter dieser Gaben wird wie gesagt als Grund dafür angegeben, weshalb sie in der Gemeinde nicht bleiben sollten, sondern abgeschafft wurden. Sie sind gegenüber dem „Vollkommenen“, das der Gemeinde gegeben werden sollte, unterlegen und weniger wertvoll.

In Vers 10 wird nun gesagt, wann Gott diese bruchstückhaften Offenbarungsgaben abschaffen würde: wenn „das Vollkommene“ (gr. to teleion) da ist. Das griechische Wort teleion (von telos = Ende, Ziel) bezeichnet etwas, das das Ziel seiner Entwicklung erreicht hat; je nach Zusammenhang kann es „das Vollkommene/Vollendete“ (im Sinne einer höchstmöglichen Perfektion) oder „das Vollständige“ (in dem Sinn, daß nichts mehr fehlt) oder „das Ausgereifte“ (im Sinne der abgeschlossenen Entwicklung, das Erwachsenenstadium) bedeuten.

Wenn wir den vorherigen Vers berücksichtigen, bezieht sich „das Vollkommene“ am ehesten auf die Erkenntnis der Ratschlüsse Gottes für die Gemeinde, die durch die Prophetengaben nur teilweise, bruchstückhaft vermittelt werden konnten. Vers 9 zeigt ja gerade, daß diese Gaben nicht vollkommen waren und keine Vollkommenheit in der Erkenntnis bewirken konnten. Ausgehend von dem Begriff „stückweise“, „teilweise“ in Vers 9 liegt für teleion auf jeden Fall auch die Bedeutung „das Vollständige“ nahe, d.h. die vollständige und vollkommene Offenbarung der Ratschlüsse Gottes für die Gemeinde.

In diesem Sinn ist es nur folgerichtig, wenn wir davon ausgehen, daß mit dem „Vollkommenen“ die vollständige, abgeschlossene und vollendete Offenbarung der Ratschlüsse und Lehren des Herrn in den heiligen Schriften des Neuen Testaments gemeint ist. Paulus zeigt in diesem Abschnitt, daß die Offenbarungsgaben der Prophetie und der Erkenntnisrede kein vollständiges und klares Bild von Gottes Plan und Willen für die Gemeinde geben konnten (vgl. V. 12: „Mittels eines Spiegels“, „wie im Rätsel“). Ihnen gegenüber war die Offenbarung Gottes in der Lehre und den Schriften der Apostel höher und klarer; sie allein konnte der Gemeinde eine vollkommene Unterweisung und Wegweisung bringen.

Dieses Verständnis von Vers 10 ist nach meiner Überzeugung das folgerichtigste, klarste, am meisten mit den übrigen Aussagen der Schrift in Übereinstimmung befindliche Verständnis. Die traditionell vorherrschende Auslegung hat „das Vollkommene“ auf den Vollendungszustand der Gemeinde bezogen, wenn sie entrückt und allezeit bei dem Herrn in der himmlischen Herrlichkeit ist. Diese Auslegung hat durchaus gewisse Argumente für sich, sie scheint z.B. durch einige Aussagen in Vers 12 gestützt zu werden, die sich gut auf den Vollendungszustand der Gemeinde beziehen lassen. Auch ist es in einem allgemeinen Sinn durchaus zutreffend, daß all unser Erkennen „Stückwerk“ ist, wie es Luther übersetzte.

Dennoch gibt es gute Gründe, diese Auslegung für diesen Abschnitt als unzutreffend zu erkennen und zu verwerfen. Zum einen würde dies bedeuten, daß die Gemeinde nach Gottes Plan für ihre gesamte Zeit auf Erden im Zustand der Unmündigkeit bleiben müßte; denn in Vers 11 werden die Gnadengaben Prophetie und Erkenntnisrede eindeutig mit dem Unmündigsein der Gemeinde in Verbindung gebracht. Das stünde aber in Widerspruch zu anderen Aussagen der Schrift, nach denen es Gottes Ziel ist, daß die Gemeinde schon hier auf Erden mündig und erwachsen wird (vgl. u. a. Eph 4,13-14: „erwachsener Mann“, „nicht mehr Unmündige“; Kol 1,28: „vollkommen [od. erwachsen, ausgereift, gr. teleios] in Christus Jesus“; Hebr 5,12-14).

Ein gewichtiger Grund gegen die Deutung auf den himmlischen Vollkommenheitszustand der Gemeinde liegt in der Aussage von Vers 13, daß zu dem Zeitpunkt, wo die Prophetengaben weggetan worden sind, dennoch Glaube, Hoffnung und Liebe noch bei der Gemeinde bleiben. Kann sich das auf die himmlische Herrlichkeit beziehen?

Wird die verherrlichte, vollendete Gemeinde im Himmel noch Glauben brauchen? Mit Sicherheit nicht, denn Glauben brauchen wir nur, solange wir nicht schauen; Glauben brauchen wir, solange wir auf Erden sind und der verherrlichte Herr im Himmel ist (vgl. 1Pt 1,8: „an ihn glaubt ihr, obgleich ihr ihn jetzt nicht seht“). Heute heißt es: „Solange wir im Leib daheim sind, sind wir nicht daheim bei dem Herrn. Denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen“ (2Kor 5,6-7). Wenn wir bei dem Herrn in der Vollendung sind, brauchen wir keinen Glauben mehr, denn wir sind zum Schauen gekommen!

Dasselbe gilt von der Hoffnung. Wir brauchen die Hoffnung, solange wir als Gläubige auf der Erde sind und unsere Vollendung, die „Erlösung unseres Leibes“ (Röm 8,23), noch zukünftig ist. Sobald wir aber mit unserem Herrn vereint sind, brauchen wir keine Hoffnung mehr, wie uns auch Römer 8 lehrt:

Denn auf Hoffnung hin sind wir errettet worden. Eine Hoffnung aber, die man sieht, ist keine Hoffnung; denn warum hofft auch jemand auf das, was er sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so erwarten wir es mit standhaftem Ausharren. (Röm 8,24-25)

Wenn die Entrückung geschehen ist, dann ist ja unsere Hoffnung erfüllt; wir sehen, was wir gehofft haben, und wir brauchen im Himmel keine Hoffnung mehr.

Die logische Schlußfolgerung ist, daß die Prophetie und Erkenntnisrede von Gott schon vor der Entrückung von der Gemeinde weggenommen werden, in einer Zeit, wo sie neben der Liebe (die in Ewigkeit bleibt) auch noch Glauben und Hoffnung benötigen. Damit ist aber die einzig schlüssige Deutung des „Vollkommenen“ in Vers 10, daß es sich auf die vollkommene Offenbarung der Heiligen Schrift des Neuen Testamentes bezieht. Wir haben oben schon gesehen, daß dies in Übereinstimmung auch mit anderen Schriftaussagen steht, die die Schrift als vollkommene und völlig genügende Offenbarung Gottes für die Gemeinde kennzeichnen.

Es ist auch stimmig, wenn die Gemeinde als Ganzes für mündig erklärt wird, sobald ihr der ganze Ratschluß Gottes in Form der apostolischen Schriften des NT übergeben wurde. Ein Lehrling (oder Jünger) ist solange nicht voll verantwortlich, als er noch nicht ganz unterwiesen wurde in seinem Aufgabenbereich.

Unmündigsein hat etwas zu tun mit mangelnder Einsicht und Erkenntnis. Die frühe Gemeinde war in diesem Sine noch unmündig, weil ihr die Kenntnis des vollen Ratschlusses Gottes fehlte. Sobald sie aber die vollständige Apostellehre übergeben bekommen hatte, war sie nunmehr verantwortlich, nach diesem Licht zu leben. Sie hatte das Mündigkeitsstadium erreicht.

11 Als ich ein Unmündiger war, redete ich wie ein Unmündiger, dachte wie ein Unmündiger und urteilte wie ein Unmündiger; als ich aber ein Mann wurde, tat ich weg, was zum Unmündigsein gehört. 12 Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels wie im Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht; jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. (1Kor 13,11-12)

Im Sinne des Obengesagten ist es also ganz natürlich, daß der Apostel in Vers 11 das Bild des unmündigen Knaben oder Jugendlichen gebraucht, der noch keine volle Erkenntnis über sein Leben und Handeln besitzt; er ist noch unreif, und sein Denken entspricht diesem Unreifestadium. Durch dieses Bild aus dem Alltagsleben werden das prophetische Reden und die Erkenntnisrede noch einmal wie schon in Vers 9 als etwas Unvollkommenes und nach Gottes Willen nur Vorläufiges gekennzeichnet.

Eine solche Kennzeichnung würde kaum Sinn machen, wenn diese Gaben wirklich erst nach 2.000 Jahren Gemeindegeschichte bei der Entrückung weggetan würden. Die Ermahnung des ganzen Abschnittes ist dann am einleuchtendsten, wenn die Wegnahme der Gaben noch im Erlebnishorizont der Korinther erfolgen würde, nämlich gegen Ende der Apostelzeit.

In Vers 12 kennzeichnet der Apostel noch einmal die Begrenztheit der Prophetie und Erkenntnisrede durch einige bildhafte Vergleiche. Wir können die Aussage dieses Verses nur richtig verstehen, wenn wir sie in den Gesamtzusammenhang der Argumentation des ganzen Abschnitts einordnen und berücksichtigem, daß Paulus hier Sprachbilder gebraucht.

Der Apostel kennzeichnet die Erkenntnis, die durch die mündlichen Prophetengaben und die Erkenntnisrede vermittelt wurde, auch in diesem Vers als etwas Unvollkommenes und in gewissem Sinne mit Mängeln Behaftetes und daher Vorläufiges. In der Zeit der Unmündigkeit, in der diese Gaben noch wirksam waren, war die durch sie vermittelte Erkenntnis nicht völlig klar (die antiken Spiegel waren polierte Metallscheiben, die wesentlich weniger von der Realität wiedergeben konnten als unsere Kristallspiegel). Paulus bezeichnet diese eingeschränkte Erkenntnis als „wie im Rätsel“ (od. in dunkler Rede, andeutungsweise).

In der Prophetie spielen ja Gesichte und Träume eine wesentliche Rolle, und diese sind oftmals in Bildern gegeben, die an und für sich nicht völlig klar in ihrer Bedeutung sind und zusätzliche Auslegung brauchen. Diesen Rätselcharakter der Prophetengabe können wir uns vielleicht am besten durch ein Beispiel veranschaulichen: das Gesicht des Apostels Petrus, mit dem Gott ihn auf den Besuch der Gesandten des Cornelius vorbereitete.

Petrus sieht ein Tuch mit allerlei unreinen Tieren und hört die Aufforderung: „Steh auf, Petrus, schlachte und iß!“ (Apg 10,10-13). Dieses Gesicht sollte Petrus zeigen, daß die von ihm verabscheuten Heidenvölker jetzt in den Augen Gottes nicht mehr gemieden werden sollten, aber diese Botschaft wurde ihm in Rätselform vermittelt. Wir lesen in Vers 17: „Als aber Petrus bei sich selbst ganz ungewiß war, was das Gesicht bedeuten solle, das er gesehen hatte (…)“. Ähnliche Gesichte und rätselhafte Botschaften finden wir immer wieder bei den Propheten, etwa der Wächterbaum bei Jeremia oder die beiden Ölbäume bei Sacharja.

Demgegenüber ist die Wortoffenbarung der apostolischen Schriften klar und deutlich. In den Briefen des Apostels Paulus finden wir das Geheimnis der Gemeinde, ein Leib bestehend aus Juden und Heiden, und das freie Angebot des Heils an die Heidenvölker verständlich gelehrt und dargelegt, so daß kein Rätsel bleibt. In den Apostelbriefen hat Gott Seinen Plan mit der Gemeinde sozusagen im Klartext, einsehbar und nachvollziehbar dargelegt. so daß die Gemeinde zu klarer und deutlicher Erkenntnis kommen kann.

Diese deutliche Erkenntnis wird von Paulus mit einem bildhaften Ausdruck umschrieben: „dann aber von Angesicht zu Angesicht“. Das bedeutet: In der klaren Apostellehre teilt Gott sich so unmißverständlich mit, als würde Er uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Auch heute noch, im Zeitalter der elektronischen Kommunikation über weite Distanzen, wählen wir das persönliche Gespräch „von Angesicht zu Angesicht“, wenn wir sicher sein wollen, was der andere meint, und über schwierige Dinge zu reden haben. In den Schriften des NT redet Gott mit uns auf diese unmittelbare und unmißverständliche Weise.

Hier kann uns ein wichtiges alttestamentliches Bibelwort weiterhelfen, das genau das Thema unseres Abschnittes behandelt und fast dieselbe Bildersprache gebraucht, so daß Paulus vielleicht sogar darauf anspielt. Wir finden dieses Wort in 4Mo 12,6-8:

Und er sprach: Hört doch meine Worte: Wenn jemand unter euch ein Prophet des HERRN ist, dem will ich mich in einem Gesicht offenbaren, oder ich will in einem Traum zu ihm reden. Aber nicht so mein Knecht Mose: er ist treu in meinem ganzen Haus. Mit ihm rede ich von Mund zu Mund, von Angesicht zu Angesicht und nicht rätselhaft, und er schaut die Gestalt des HERRN. Warum habt ihr euch denn nicht gefürchtet, gegen meinen Knecht Mose zu reden?

Mirjam und Aaron hatten gegen Mose aufbegehrt und wollten sich ihm gleichstellen; dazu zogen sie die Tatsache heran, daß auch sie prophetische Offenbarungen vom HERRN empfangen hatten: „Redet denn der HERR allein zu Mose? Redet er nicht auch zu uns?“. Da antwortet ihnen der HERR und weist sie zurecht, indem er die einmalige, besondere Stellung von Mose unter allen Propheten der damaligen Zeit hervorhebt. Die prophetische Offenbarung geschah in der Regel durch Gesichte und Träume, die rätselhaft waren. Mose dagegen empfing das klare Wort des HERRN, so wie er es auch in den heiligen Schriften niederschrieb.

Diese klare Wortoffenbarung nun kennzeichnet Gott mit denselben Begriffen wir in 1Kor 13,12: Gott redet zu Mose „von Angesicht zu Angesicht“, nicht rätselhaft (vgl. auch 2Mo 33,11; 5Mo 5,4). Daß dieser Ausdruck hier im übertragenen Sinn für eine klare, vollkommene Offenbarung gebraucht wird, ergibt sich aus den vielen Bibelstellen, die bezeugen, daß kein Mensch Gott im Wortsinn von Angesicht zu Angesicht sehen kann (vgl. 2Mo 33,20; Joh 1,18).

So stellt der Apostel Paulus im weiteren noch einmal die Überlegenheit der apostolischen Wortoffenbarung über die Prophetengaben heraus, wenn er schreibt: „jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen [w. klar, vollständig erkennen; gr. epi-gnosomai], gleichwie ich erkannt [w. vollständig, klar erkannt; epi-gnosomai] bin“. Die Prophetengabe wie auch die Erkenntnisrede ermöglichten nur ein bruchstückhaftes Erkennen, ergaben nur ein fragmentarisches, unvollständiges Bild des Ganzen. Dagegen ermöglicht die apostolische Wortoffenbarung der heiligen Schriften eine klare, vollkommene Erkenntnis, so wie auch Gott uns klar und vollkommen erkennt.

Natürlich ist unser Erkennen Gottes in gewissem Sinn eingeschränkt, daß wir heute durch die Bibel nicht alles in Gottes Wesen und Ratschlüssen vollständig erkennen, aber das, was uns Gott mitgeteilt hat in Seinem Wort, ermöglicht es uns, Gott klar und zuverlässig zu erkennen, als würde Er uns persönlich gegenüberstehen.

In gewissem Sinn ist ohne Zweifel unser Erkennen erst vollkommen, wenn wir in der Herrlichkeit Gott scheuen werden. Aber in einem anderen Sinn vermittelt das Wort Gottes uns über die Dinge, die Gott uns wissen ließ, völlig zuverlässige Erkenntnis (vgl. auch 1Kor 2,10-16). Daß Gott gnädig und barmherzig ist, das weiß ich aus dem Wort Gottes so gewiß und zuverlässig, als wenn ich Ihn schon sehen könnte.

So finden wir in diesem Vers noch einmal eine eindringliche Darstellung der Gewißheit und Zuverlässigkeit des Wortes Gottes, das uns klare Orientierung, klare Erkenntnis ermöglicht und deshalb den vorläufigen Offenbarungsgaben der Anfangszeit weit überlegen ist, so daß diese tatsächlich nicht mehr benötigt wurden, sobald diese Wortoffenbarung der Gemeinde in Gestalt des Neuen Testaments vorlag.

So verstanden erklärt dieser Abschnitt auch einleuchtend, was in der Geschichte der Gemeinde auch bezeugt ist, daß nämlich die Offenbarungs- und Wunderzeichengaben der Apostelzeit in den späteren Jahrhunderten nie wieder unter wahren Gläubigen und biblischen Gemeinden auftraten.

Wo man in der Kirchengeschichte von solchen Dingen später noch hört, handelt es sich ausnahmslos um betrügerische Fälschungen dieser biblischen Gaben, die in falschprophetischen Bewegungen wie dem Montanismus und in dämonischen Irrströmungen am Rande der Christenheit auftraten.

Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte aber von diesen ist die Liebe. (1Kor 13,13)

Der abschließende Vers in diesem Abschnitt greift noch einmal das einleitende Argument von der Überlegenheit der Agape-Liebe über alle anderen Gnadengaben auf. Gleichzeitig erhärtet die Aussage, daß Glaube und Hoffnung noch bei der Gemeinde bleiben, während Prophetie und Erkenntnisrede bereits weggenommen sind, unsere hier vorgestellte Deutung des Verses 10: Das Vollkommene ist die Schriftoffenbarung des Neuen Testaments, die uns zuverlässige Erkenntnis gibt und weitere Prophetien unnötig macht. Somit stimmt der betrachtete Abschnitt genau mit den anderen biblischen Aussagen überein, die wir bereits untersucht haben. Wir dürfen uns in der Endzeit an das völlig zuverlässige prophetische Wort der Schrift halten und müssen nicht nach neuen Prophetenbotschaften Ausschau halten.

 

Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus der ausführlicheren Schrift von Rudolf Ebertshäuser Redet Gott heute noch durch Propheten und Wunderzeichen? Der Anspruch der Charismatischen Bewegung und die Lehre der Bibel.

 

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