Durch das ganze Mittelalter war im Raum der katholischen Kirche die lateinische Vulgata-Übersetzung im Gebrauch, im griechischsprachigen Raum dagegen der griechische „byzantinische“ Text. Durch die Entartung der katholischen Kirche waren Bibelübersetzungen in die Volkssprachen verboten und unterdrückt worden, und so konnte das kostbare Evangelium nicht weit verbreitet werden; nur kleinere, verfolgte Gruppen von wahren Gläubigen wie die Waldenser hielten das Zeugnis des Evangeliums noch unverfälscht aufrecht und hatten auch eine eigene, von der katholischen Kirche unabhängige Bibelübersetzung (es gibt einige Anhaltspunkte dafür, daß sie dem Mehrheitstext folgte). Die Vulgata war so beherrschend in der Christenheit, daß noch Wycliff sich bei der Übersetzung seiner berühmten englischen Bibel weitgehend an sie hielt.

Doch mit der Reformation kam durch Gottes mächtiges Wirken eine gewaltige Wende. Gott stellte in Seiner Gnade Sein kostbares, unverfälschtes Wort wieder auf den Leuchter und bewirkte, daß die Bibelübersetzung in die Sprachen der Völker einen gewaltigen Auftrieb bekam. Viele bibeltreue Gläubige von heute achten diesen bedeutsamen Wendepunkt in Gottes Wegen mit seiner Gemeinde gering und erkennen nicht die Bedeutung dieser Stunde.

Sie sehen die Schwächen und Fehler der Reformatoren, den Mangel an Licht und Glaubengehorsam in der Tauf- und Gemeindefrage, aber sie erkennen nicht, wie gewaltig und wunderbar es war, daß Gott nach Jahrhunderten der Finsternis und des Mangels Seinem WORT wieder freie Bahn verschaffte. Die Gläubigen der damaligen Zeit erkannten das wohl, und für sie waren diese Bibeln in ihrer Sprache ein kostbares Gottesgeschenk, für das sie oft ihr Leben riskierten. Wie beschämend ist dies für uns heute, die wir so reich an Bibeln sind, und oft so arm an wirklicher Liebe zum Wort und an Gottesfurcht!

Gott sorgte in der Reformation dafür, daß Sein Wort unverfälscht und zuverlässig an die Millionen von Menschen hinausgehen konnte, die nun erstmals das Licht des Evangeliums sahen. Die Reformatoren hatten durchschaut, daß die katholische Vulgata nicht das ursprüngliche Wort Gottes war, sondern daß die inspirierten Worte Gottes in den hebräischen und griechischen Handschriften des AT bzw. NT zu finden waren. Und Gott stellte den reformatorischen Bibelübersetzern diese von Ihm bewahrten Texte genau zur rechten Zeit zur Verfügung.

Ende des 15. Jh. erschienen die ersten gedruckten Ausgaben des hebräischen Masoretischen Textes, so daß erstmals der zuverlässige Text des AT auch für Nichtjuden frei zur Verfügung stand. Und 1516, ein Jahr vor dem Beginn der Reformation, sorgte Gott dafür, daß der Text des Neuen Testaments auf Griechisch als Buch veröffentlicht wurde. Das war die Geburtsstunde des „Textus Receptus“, des von allen Gläubigen anerkannten griechischen Textes des NT, der über 350 Jahre lang der Grundtext aller reformatorischen Bibeln bleiben sollte.

Der Textus Receptus kam durch drei menschliche Werkzeuge zustande, die als sachkundige Herausgeber aus verschiedenen griechischen Handschriften des NT eine zuverlässige Textausgabe schufen: Erasmus von Rotterdam, Stephanus (Robert Estienne) und Theodor Beza. Erasmus war einer der fähigsten Gelehrten der damaligen Zeit, ein gründlicher Kenner der Bibelüberlieferung, dem es ein Anliegen war, gegen die nach seiner Überzeugung verdorbene katholische Vulgata den wahren Text des NT aus den griechischen Handschriften zu veröffentlichen. Er veröffentlichte selbst fünf Auflagen des griechischen NT (1516, 1519, 1522, 1527, 1535).

Der von Erasmus herausgegebene Text wurde ab 1546 weiter bearbeitet und vervollkommnet von einem fähigen französischen Gelehrten und Drucker, der zum evangelischen Glauben kam und um seines Glaubens willen in die Schweiz auswanderte: Robert Estienne, genannt Stephanus. Wie Erasmus erforschte er zahlreiche griechische Handschriften des NT und zog sie für seine Ausgaben des Textus Receptus hinzu. Seine Textausgabe von 1550 und die Ausgaben des Reformators Theodor Beza, der ebenfalls ein gründlicher Kenner des Griechischen und der Handschriften des NT war, sind die ausgereifte Form des Textus Receptus und bildeten die Grundlage für fast alle reformatorischen Bibelübersetzungen. Luther und Zwingli hatten für ihre Bibelübersetzungen die zweite Auflage von Erasmus (1519) zugrundegelegt.

Zwischen all diesen Ausgaben des Textus Receptus gab es nur verschwindend geringfügige Unterschiede. Einzelne Fehler wurden verbessert, aber die Grundgestalt des Textes blieb seit der letzten Ausgabe von Erasmus im wesentlichen unverändert. Was heute nur selten erwähnt wird, ist die erweckliche, lichtbringende Segenswirkung, die von dieser Ausgabe des NT in alle Lande ging. Immer wieder mußte sie nachgedruckt werden. Viele Menschen waren hungrig danach, zu erfahren, was wirklich in Gottes Wort stand – darunter auch viele, die in der Reformation eine entscheidende Rolle spielen sollten.

Für unser geistliches Urteil über den Textus Receptus ist es nun wichtig, daß Erasmus, Stephanus und Beza als Grundlage für ihre Textausgabe den byzantinischen Text, also das Zeugnis von mehr als 90% aller Handschriften, auswählten. Das geschah keinesfalls „zufällig“ oder aus Unkenntnis, wie die ungläubigen Textkritiker es oft darstellen. Viele von der katholischen Kirche unabhängige Gelehrte jener Zeit waren zu der Überzeugung gekommen, daß der wahre Text der Bibel nicht in der katholischen Vulgata-Übersetzung zu finden war, sondern im hebräischen Masoretischen Text und in der griechischen Textüberlieferung der byzantinischen Ostkirche.

Schon vor Erasmus hatten Gelehrte wie Valla darauf hingewiesen, daß die Vulgata den wahren Bibeltext an zahlreichen Stellen verdorben hatte. Deshalb wählte Erasmus bewußt den byzantinischen Text für seine Ausgabe des griechischen NT, und nicht die alexandrinischen Textformen, die er zum großen Teil schon kannte.

Wir Gläubige dürfen damit rechnen, daß Gott aufgrund Seiner Bewahrung des Wortes darüber gewacht hat, welche Handschriften Sein menschliches Werkzeug zugrundelegte, um den Gläubigen in aller Welt den Text des griechischen NT zur Verfügung zu stellen. Er sorgte dafür, daß keine der gnostisch beeinflußten Auslassungen und Verfälschungen im Text des Erasmus stand, sondern die gesunde byzantinische Textüberlieferung. Und an den wenigen Stellen, wo Erasmus, Stephanus und Beza übereinstimmend Textformen in ihren Text aufnahmen, die nicht von der Mehrzahl der heute erhalten gebliebenen Handschriften gestützt werden, taten sie es aufgrund des Zeugnisses von uns heute nicht mehr bekannten Handschriften und unter der Führung und Fügung Gottes – so dürfen wir Gläubige es annehmen. Dazu gehören z. B. das „Comma Johanneum“ in 1Joh 5,7-8 oder die Schlußsätze der Offenbarung.

Es war auch eine deutliche Führung Gottes, daß praktisch alle wahren Gläubigen in den Jahrhunderten nach der Reformation genau diesen überlieferten Text der Reformation zur Grundlage ihrer Bibelübersetzungen, ihrer Lehre und ihres Glaubens machten. Das gilt nicht nur für die Reformatoren in aller Welt, sondern auch für die Waldenser und die Täufer. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es praktisch keine evangelische Bibelübersetzung, die nicht den Textus Receptus im NT bezeugt hätte. Es ist beeindruckend, unterschiedliche Bibelübersetzungen wie die spanische Reina-Valera, die französische Ostervald, die holländische Statenvertaling und die englische King James Version an verschiedenen Stellen zu vergleichen und festzustellen, daß sie alle einheitlich dasselbe bezeugen.

Die Bibeln der Reformation, die den Textus Receptus und den Masoretischen Text zur Grundlage haben, waren gewaltige Werkzeuge des Segens und der Erweckung. Aus diesen Bibeln predigten alle die gesegneten Diener des Wortes vom 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts – ob es nun Harms oder Krummacher waren, Hofacker oder Engels, ob Wesley oder Whitefield, Jonathan Edwards oder Spurgeon. Durch diese getreuen Bibelübersetzungen wirkte der Geist Gottes mit großer Kraft und bezeugte ungezählten Menschen das Heil in Christus. Gott selbst hat für den, der geistlich urteilt, sichtbar das Siegel Seines Wohlgefallens und Seine Bestätigung auf diese Bibeln gesetzt.

 
 
Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus der ausführlicheren Schrift von Rudolf Ebertshäuser Der zuverlässige Text des Neuen Testaments. Der Textus Receptus und die Veränderungen in den modernen Bibeln.
 
 
Print Friendly, PDF & Email