Die Entlassung des bisherigen Rektors der Akademie für reformatorische Theologie (ART), Wolfgang Nestvogel, hat unter bibeltreuen Christen einige Debatten ausgelöst. Wir wollen hier nicht auf die willkürliche und ungeistliche Art und Weise eingehen, wie Wolfgang Nestvogel aus seinen Positionen gedrängt wurde (darüber wurde z.B. in TOPIC berichtet). Uns kommt es auf die geistlichen Hintergründe dieses Vorganges an, und die sind über den konkreten Fall hinaus bedeutsam.

Der Kern der Auseinandersetzung war die Stellung der ART und ihrer Dozenten zum „Chiliasmus“ – das ist der theologische Fachbegriff für die Überzeugung, daß Gott sich noch einmal dem Volk Israel zuwenden wird und daß Christus wiederkommen wird, um Sein tausendjähriges Reich aufzurichten, in dem das Volk Israel eine entscheidende Rolle spielen wird. Wolfgang Nestvogel wurde hauptsächlich deshalb aus seinem Amt gedrängt, weil er eben dieser Überzeugung ist, und weil die dogmatischen calvinistisch-reformatorischen Kräfte im Stiftungsrat (die die ART auch finanziell maßgeblich unterstützen), ihn auf die klassische reformatorische Lehre in Endzeitfragen festlegen wollten, was er aus Gewissensgründen verweigerte.

Der Glaube an ein wörtliches tausendjähriges Reich und ein wörtliches Verständnis der alttestamentlichen Verheißungen an Israel, wie ihn Nestvogel und im übrigen die meisten bibeltreuen Christen heute vertreten („Prämillenialismus“, oft auch als „Dispensationalismus“ bezeichnet), wird heute von einer wachsenden Zahl dogmatischer Calvinisten und „reformatorischer“ Christen angegriffen. Dagegen wird – ähnlich wie im Fall der ART – die Meinung verbreitet, Israel habe keine Zukunft in Gottes Ratschlüssen, sondern sei endgültig verworfen, die Christenheit habe Israel als Volk Gottes ein für allemal ersetzt und man befinde sich bereits im tausendjährigen Reich, das durch die Kirche verwirklicht werden solle. Dabei beruft man sich z.T. darauf, dies sei die Position der „historischen Christenheit“ (in Wahrheit der katholischen Kirche und der Reformatoren) gewesen.

Die Auseinandersetzung zwischen diesen unterschiedlichen Positionen ist mehr als nur eine Diskussion unter bibeltreuen Christen über Erkenntnisfragen, die man so oder so sehen kann. Nach meiner Überzeugung geht es hier um wichtige geistliche Grundlagen, die die rechte Orientierung der bibeltreuen Gläubigen in der voranschreitenden Endzeit betreffen. Wenn man die sehr zahlreichen prophetischen Aussagen des AT über die Wiederherstellung Israels und das messianische Friedensreich am Ende der Zeiten im geschichtlichen und wörtlichen Sinn versteht, was der einzig wirklich bibeltreue Auslegungsansatz ist, dann folgt daraus völlig eindeutig, daß wir ein wörtliches tausendjähriges Reich zu erwarten haben, das der wiederkommende Herr selbst einführt, und in dem Israel eine Schlüsselrolle spielt. Diese Lehre wird durch zahlreiche Aussagen des NT unterstützt.

Umgekehrt ist die sogenannte „reformatorische“ Endzeitlehre das Ergebnis einer verdrehten Deutung der alttestamentlichen Prophetie, wie sie von den frühen Irrlehrern der katholischen Kirche propagiert wurde, allen voran Origenes und Augustinus. Die Reformatoren übernahmen in der Lehre von der Vollendung der Heilsgeschichte (theologisch: Eschatologie) einfach die Position des Augustinus; sie versäumten es, zu Paulus und der Apostellehre zurückzugehen (das gilt auch für andere Fragen, aber das würde hier zu weit führen). Es gibt viele Hinweise, daß die frühe Gemeinde klar von der Erwartung eines realen Tausendjährigen Reiches im Sinne der biblischen Prophetie ausging.

Der Wechsel zur Lehre des „Amillennialismus“, die ein wirkliches messianisches Königreich auf Erden leugnet, geschah im Zuge der Verführung und Durchsäuerung der nachapostolischen Gemeinde, in der „Theologen“ eine Schlüsselrolle spielten, die von Gnosis und griechischer Philosophie beeinflußt waren. Es ist nicht unbedingt nötig, den Reformatoren daraus einen Vorwurf zu machen, daß sie die biblische Endzeitlehre vernachlässigten – aber heute, da die Endzeitereignisse sich vor unseren Augen abspielen, gibt es für ein Festhalten an diesen alten Irrtümern keine Entschuldigung; sie spielen heute eine geradezu irreführende und zerstörerische Rolle in der Gemeinde.

 
Es war ein wesentlicher Bestandteil der bibeltreuen Erweckung in den englischsprachigen Ländern, die Gott Mitte des 19. Jh. schenkte, daß die falschen calvinistischen Endzeitlehren überwunden wurden durch eine heilsgeschichtliche Sichtweise. Diese wurde ganz einfach dadurch gewonnen, daß man das prophetische Schriftwort wörtlich ernst nahm und Schrift mit Schrift verglich (daraus entstand z.B. die bekannte „Scofield-Bibel“). So wurde die treue Gemeinde Jesu Christi rechtzeitig mit einer biblisch klaren Sicht in Endzeitfragen ausgerüstet, als die letzte Phase der Endzeit immer massiver auszureifen begann.

Wir wollen den Gläubigen, die heute amillennialistischen Überzeugungen anhängen, nicht das Bemühen um Bibeltreue absprechen; wohl aber müssen wir darauf hinweisen, daß die amillennialistische Position dieser calvinistischen und reformatorischen Kreise in bezug auf die Auslegung von Gottes heiligem Offenbarungswort das Gegenteil von Bibeltreue bedeutet. Sie kann nur aufrechterhalten werden, wenn man große Teile der alttestamentlichen Prophetie ihres wörtlichen Sinns beraubt und die willkürlich als bloße Allegorie umdeutet.

Diese „allegorische“ Bibeldeutung ist im Grunde, wenn sie auf klar nichtsymbolische Aussagen angewandt wird, eine Form der Bibelkritik, weil sie unterstellt, Gott habe nicht gemeint, was Er offenkundig sagt. Und Gott hat mehrfach in ernstesten Worten betont, daß er Israel am Ende der Zeit wiederherstellen werde (vgl. u.a. Jeremia 30 – 33). Das reale Friedensreich des Messias ist in so vielen konkreten, bis in Einzelheiten gehenden Aussagen des AT angekündigt, daß es schon einer gewissen theologischen Verblendung bedarf, um all dies umzudeuten. Der Apostel Paulus lehrt die Wiederherstellung Israels und die Erfüllung der at. Verheißungen in Römer 9 – 11; das reale Kommen des Messias zum Gericht über die Gottlosen in 2. Thessalonicher; auch die Evangelien unterstreichen dies (vgl. etwa Mt 24).

Zu bedenken ist auch die üble Frucht der amillennialistischen Falschlehre. Sie hat im 2. bis 4. Jh. den Übergang der römischen Kirche zur Hure Babylon, zur Kirche der weltlichen Macht, bereiten helfen. Die Lehre Augustins, daß die Kirche Israel ersetze und das Tausendjährige Reich zu verwirklichen habe, gab den Päpsten die scheinbare Rechtfertigung, nach weltlicher Macht zu streben, Könige einzusetzen und mit dem Schwert Menschen zum „Christentum“ zu „bekehren“. Sie war ein böser Sauerteig, der die Entartung der apostolischen Gemeinde förderte und bis heute Anlaß für viele Lästerungen gegen das Christentum gibt. Auch in der reformatorischen Geschichte ist diese Falschlehre für manche beschämende Entwicklung mit verantwortlich, u.a. für die Hinrichtung von Täufern und Häretikern auf Veranlassung von Kirchenführern und für die Kriege im Namen des Glaubens, wie sie seitens der französischen Hugenotten und der englischen Puritaner geführt wurden.

Und heute? Heute baut diese Lehre eine scharfe Gegenposition auf gegen den Ruf der Schrift, den die bibeltreuen Verkündiger weitertragen, daß wir nämlich auf den unversehens wiederkommenden Herrn warten (1Thess 1,10) und uns für Ihn heiligen sollen (1Joh 3,2-3). In der Praxis bedeutet diese Lehre, daß der Weg geebnet wird für die Illusion einer allmählichen christlichen Durchdringung der Gesellschaft (vgl. die reformatorische Falschdeutung des Gleichnisses vom Sauerteig in Mt 13,33). Der immer schneller sich entwickelnde Abfall vom Glauben, die deutlichen endzeitlichen Entwicklungen, die auf den Höhepunkt der antichristlichen Herrschaft und darauf folgend auf das Kommen des Herrn zum Gericht zulaufen, werden letztlich verharmlost und die Gemeinde in einen gefährlichen Schlaf gelullt (vgl. Röm 13,11-14; 1Thess 5,1-7).

Das gilt objektiv und grundsätzlich, auch wenn es manche reformatorische Kreise gibt, die bestimmte Endzeitentwicklungen kritisch kommentieren und ablehnen. Objektiv fördert diese Lehre die Irreführung der Christen in bezug auf eine allmähliche Vorherrschaft der Namenschristenheit in einer Welt, die weder das Gericht noch das baldige Kommen des Christus zu erwarten hat. Sie ruft den Christen zu: „Der Herr säumt zu kommen“ (Mt 24,58) und „Wo bleibt die Verheißung seiner Wiederkunft?“ (2Pt 3,4).

 
Deshalb finden wir heute unter den eifrigsten Befürwortern des Amillennialismus die abgefallenen liberal-ökumenischen Theologen und die Irrlehrer der Emerging Church, die energisch den Dispensationalismus angreifen und alles tun, um die Lehre von dem bald wiederkommenden Herrn zu untergraben und mit intellektueller Häme zu überziehen. Es steht zu befürchten, daß die falschen Lehren eines Augustin in Zukunft mit dazu beitragen, reformatorische und modern-evangelikale Kreise zurück in den Bannkreis der römischen Kirche und ihres antichristlichen Programms zu ziehen.

Wir tun also gut daran, die gesunden bibeltreuen Lehrstandpunkte des ausgewogenen Dispensationalismus (es gibt natürlich auch extreme Spielarten, denen wir nicht folgen können) bewußt zu verteidigen und uns tiefer anzueignen. Und wir sollten die Angriffe gegen dispensationalistische Lehren, wie sie von gewissen reformatorischen Kreisen kommen, klar und deutlich zurückweisen, ihre irrigen Lehren widerlegen und vermehrt die Grundlagen der heilsgeschichtlichen Schriftauslegung in den Gemeinden lehren und vermitteln. Davon hängt die Abwehr endzeitlicher Irrlehren und der gesunde Kurs bibeltreuer Gemeinden wie einzelner Gläubiger nicht unwesentlich ab!

Strebe eifrig danach, dich Gott als bewährt zu erweisen, als einen Arbeiter, der sich nicht zu schämen braucht, der das Wort der Wahrheit recht teilt. (2Tim 2,15)

Der Herr zögert nicht die Verheißung hinaus, wie etliche es für ein Hinauszögern halten, sondern er ist langmütig gegen uns, weil er nicht will, daß jemand verlorengehe, sondern daß jedermann Raum zur Buße habe. Es wird aber der Tag des Herrn kommen wie ein Dieb in der Nacht; dann werden die Himmel mit Krachen vergehen, die Elemente aber vor Hitze sich auflösen und die Erde und die Werke darauf verbrennen. Da nun dies alles aufgelöst wird, wie sehr solltet ihr euch auszeichnen durch heiligen Wandel und Gottesfurcht, indem ihr das Kommen des Tages Gottes erwartet und ihm entgegeneilt, an welchem die Himmel sich in Glut auflösen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden! (2Pt 3,9-12)

 
 
Quellen:
idea spektrum 30-31/2010, S. 26
TOPIC 8 / August 2010, S. 2-3
http://en.wikipedia.org/wiki/Amillennialism
 
 
Rudolf Ebertshäuser   das-wort-der-wahrheit.de    11. 9. 2010
 
 
Literaturempfehlungen

John F. Walvoord: Was kommt auf uns zu? Brennpunkte biblischer Prophetie (Hänssler)

Ernst G. Maier: Die biblische Lehre von den Heilszeiten (CMD)

Mal Couch (Hrsg.): Lexikon zur Endzeit. Ein praktischer Führer zu Personen, Standpunkten und dem Studium biblischer Prophetie und Heilsgeschichte. 1. Auflage. Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg 2004

 

Zu diesem Thema können Sie auf dieser Webseite lesen:

Die „letzten Tage“ im Neuen Testament: Der wiederkommende Herr und die Gemeinde

Die Verfälschung der biblischen Lehre vom Königreich Gottes