1. Die katholische Kirche und die Jahrhunderte der geistlichen Finsternis in Europa

 

Am Anfang der Gemeindegeschichte steht die apostolische Urgemeinde des 1. Jahrhunderts. Diese Urgemeinde war bei allen Mängeln und Nöten ein wunderbares Werk Gottes. Menschen aus den Juden und aus den Heiden kamen durch das Wirken des Heiligen Geistes zum Glauben an den Herrn und Erlöser Jesus Christus; sie folgen diesem Herrn nach und geben Zeugnis vom Evangelium der Gnade, und so breitet sich dieser neue Glaube durch das Römische Reich aus, wie wir so eindrucksvoll in der Apostelgeschichte sehen können.

Die Urgemeinde war auch Empfänger und treuer Überlieferer der heiligen Schriften des Neuen Testaments. Sie bewahrte die Evangelien, die Apostelgeschichte und die Briefe der Apostel sorgfältig auf, schrieb sie immer wieder ab. Die Bibel –zumeist in der Form der griechischen Übersetzung des AT und den griechischen Schriften des NT – bildete die Grundlage des ganzen Lebens der ersten Gemeinde. Die Gläubigen befolgten die Anweisung der Apostel, wie sie der Apostel Paulus an seinen Mitarbeiter Timotheus weitergibt:

Halte dich an das Muster der gesunden Worte, die du von mir gehört hast, im Glauben und in der Liebe, die in Christus Jesus ist! Dieses edle anvertraute Gut bewahre durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt! (2Tim 1,13-14)

Verkündige das Wort, tritt dafür ein, es sei gelegen oder ungelegen; überführe, tadle, ermahne mit aller Langmut und Belehrung! Denn es wird eine Zeit kommen, da werden sie die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern sich selbst nach ihren eigenen Lüsten Lehrer beschaffen, weil sie empfindliche Ohren haben; und sie werden ihre Ohren von der Wahrheit abwenden und sich den Legenden zuwenden. (2Tim 4,2-4)

 

 

a. Die Entartung der katholischen Kirche

 

Doch schon ab dem 2. Jahrhundert nach Christus setzt ein erschütternder Umschwung ein. Nun kommen in den Gemeinden neue Führer auf, die nicht mehr einfältig nach der Heiligen Schrift leben und lehren. Sie sind philosophisch gebildete Griechen, welche die Bibel und das Christentum als eine neue Art griechischer Philosophie und Religion auffassen. Nicht umsonst warnt der Apostel Paulus: „Habt acht, daß euch niemand beraubt durch die Philosophie und leeren Betrug, gemäß der Überlieferung der Menschen, gemäß den Grundsätzen der Welt und nicht Christus gemäß“ (Kol 2,8). Genau das geschah ab dem 2. Jahrhundert.

So entstand nach der apostolischen Urgemeinde im 2. bis 4. Jahrhundert die frühkatholische Kirche – aus einer unbiblischen, widergöttlichen Vermischung zwischen heidnischer Religion und Philosophie und Bruchstücken der christlichen Botschaft. Schon erschreckend bald nach der Apostelzeit war ein Gebilde entstanden, das auf schwerwiegenden Verfälschungen des Evangeliums und der biblischen Lehre beruhte. Eine solche Entartung wurde in Gottes Wort schon vorhergesehen:

Der Geist aber sagt ausdrücklich, daß in späteren Zeiten etliche vom Glauben abfallen und sich irreführenden Geistern und Lehren der Dämonen zuwenden werden durch die Heuchelei von Lügenrednern, die in ihrem eigenen Gewissen gebrandmarkt sind. Sie verbieten zu heiraten und Speisen zu genießen, die doch Gott geschaffen hat, damit sie mit Danksagung gebraucht werden von denen, die gläubig sind und die Wahrheit erkennen. (1Tim 4,1-3)

So habt nun acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in welcher der Heilige Geist euch zu Aufsehern gesetzt hat, um die Gemeinde Gottes zu hüten, die er durch sein eigenes Blut erworben hat! Denn das weiß ich, daß nach meinem Abschied räuberische Wölfe zu euch hineinkommen werden, die die Herde nicht schonen; und aus eurer eigenen Mitte werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen in ihre Gefolgschaft. (Apg 20,28-30)

Das Wesen des Evangeliums, die Errettung des Sünders aus Gnade durch den Glauben an das vollkommene Erlösungswerk des Herrn Jesus Christus, war in dieser Kirche verdunkelt und entstellt. Stattdessen stützte man sich auf ein Gemisch von widerbiblischen Elementen heidnischer Philosophie und Mysterienreligion, das immer weiter ausgebaut wurde und im Prinzip heute noch wirksam ist:

Statt des biblischen Evangeliums der Gnade, wie es der Apostel Paulus verkündigt hat, wurde nun Schritt für Schritt ein falsches Evangelium der Selbsterlösung durch gute Werke und Sakramente gesetzt. Die Taufe wurde zu einem magischen Akt der Einweihung, durch den der Täufling angeblich automatisch Vergebung aller seiner vorigen Sünden bekäme. Das Evangelium wurde zum „neuen Gesetz“ umgedeutet, das der Mensch nach der Taufe nunmehr mit asketischer Enthaltsamkeit zu halten habe, um gerettet zu werden. Das war ein Ausfluß der stoischen Philosophie und eine Verleugnung des Evangeliums von der Gnade Gottes in Christus. Nicht mehr schlichter Glaube an den Retter war gefordert, sondern Selbstvervollkommnung und Werke.

Nach dem Vorbild der heidnischen Mysterienkulte, aus denen viele der neu dazugekommen christlichen Führer herkamen, wurde das Abendmahl zu einem mystisch-magischen Akt umgeformt, durch den der Eingeweihte der Unsterblichkeit teilhaftig würde, weil er angeblich Christi Leib und Blut zu essen bekäme. Dazu kamen rasch abergläubische Vorstellungen über die Wirkung des Kreuzeszeichens, Verehrung von Heiligenbildern und der „Gottesmutter Maria“, Verdienste durch Fasten und Bußübungen.

In den frühkatholischen Gemeinden erhob sich rasch eine besondere Priesterkaste, welche allein die Sakramente verwalten durfte, auch die Beichte und Sündenvergebung, und die damit zu einer besonderen Mittlerstellung zwischen Gott und den Menschen erhöht wurde, von der die Bibel nichts weiß. Sehr früh schon wird fast alle geistliche Autorität in der Person des einen Bischofs konzentriert, der hoch über den Gläubigen steht und angeblich in der Nachfolge des Petrus im Besitz der biblischen Wahrheit ist und allein die Sakramente gültig spenden kann.

Diese verderblichen Entwicklungen waren schon weit ausgeprägt, als durch den Kaiser Konstantin Anfang des 4. Jahrhunderts die frühkatholische Kirche geduldet und gefördert wurde, um von seinen Nachfolgern dann zur offiziellen Staatsreligion des römischen Reiches erklärt zu werden. Damit beschleunigte sich die Entartung und geistliche Verderbnis in dieser Kirche.

Die römisch-katholische Kirche hatte spätestens seit ihrer Entwicklung zur Macht- und Staatskirche nichts mehr mit dem wahren Glauben an Christus zu tun. Sie war zu der „Hure Babylon“ geworden, wie sie das Wort Gottes so eindrücklich schildert: eine abgefallene Machtkirche voller Gepränge und Pomp, aber längst Christus untreu geworden, eine heidnische Mischreligion, in der Zauberei und Mysterienkulte, Götzendienst und allerlei widergöttliche Greuel herrschten:

Und einer von den sieben Engeln, welche die sieben Schalen hatten, kam und redete mit mir und sprach zu mir: Komm!, ich will dir das Gericht über die große Hure zeigen, die an den vielen Wassern sitzt, mit der die Könige der Erde Unzucht (od. Hurerei) getrieben haben, und von deren Wein der Unzucht (od. Hurerei) die, welche die Erde bewohnen, trunken geworden sind. Und er brachte mich im Geist in eine Wüste.

Und ich sah eine Frau auf einem scharlachroten Tier sitzen, das voll Namen der Lästerung war und sieben Köpfe und zehn Hörner hatte. Und die Frau war gekleidet in Purpur und Scharlach und übergoldet mit Gold und Edelsteinen und Perlen; und sie hatte einen goldenen Becher in ihrer Hand, voll von Greueln und der Unreinheit ihrer Unzucht, und auf ihrer Stirn war ein Name geschrieben: Geheimnis (gr. mysterion), Babylon, die Große, die Mutter der Huren und der Greuel der Erde. Und ich sah die Frau berauscht vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu; und ich verwunderte mich sehr, als ich sie sah. (Offb 17,1-6)

Diese gewaltige, erschütternde Vision können wir hier nicht im Einzelnen auslegen, aber der Bezug zur römischen Kirche ist eindeutig, nicht zuletzt durch die Erwähnung der sieben Berge in V. 9, die uns an Rom, die sprichwörtliche Stadt auf den sieben Hügeln erinnert. Die von Christus abtrünnige Frau, die Hure, ist die abgefallene Kirche, die sich aus der heiligen Brautgemeinde herausentwickelt hat.

Das furchterregende Tier ist das römische Reich, wie der Bezug zu dem vierten Tier in Daniel 7 zeigt (10 Hörner; vgl. Dan 7,7). Ihre Namen zeigen ihre Herkunft: Sie ist letztlich eine Nachfolgerin der okkulten Mysterienreligionen des Heidentums, die auf das alte Babylon zurückgeführt werden, in dem der heidnische Götzendienst seinen Ursprung hat (Bab-ilani = „Pforte der Götter“).

Die Kirche war nun zum Helfershelfer und zugleich zum religiösen Wegweiser der römischen Reichsmacht aufgestiegen. Sie war nicht mehr demütige, leidende Gemeinde Christi, sondern Teil eines finsteren Systems der Beherrschung der Seelen. Das blieb die römische Kirche auch, als das alte römische Reich in den Germanenstürmen unterging.

 

 

b. Die heidnische Religion der römischen Kirche und die mittelalterlichen Menschen

 

Etwa zwischen dem 5. und dem 15. Jahrhundert setzen Historiker gewöhnlich das „Mittelalter“ an. In bezug auf Europa ist das die Zeit der germanischen Königreiche, die das zerfallende römische Reich durch mehrere Invasionen und Kriegszüge umgestürzt und abgelöst hatten. Die eingefallenen Germanen – u.a. Westgoten, Ostgoten, Franken, Langobarden – waren entweder schon christianisiert oder übernahmen mehrheitlich nach einiger Zeit den katholischen Glauben.

Die römisch-katholische Kirche, die sich nach der Förderung durch den römischen Kaiser Konstantin zu einer Staatskirche des Römischen Reiches entwickelt hatte und dabei zu großer Macht gekommen war, verstand es geschickt, die neu entstandenen germanischen Königreiche für ihre Form von Christentum zu gewinnen und bei den germanischen Königen und Fürsten große Macht und beträchtlichen Einfluß zu erlangen.

In der römischen Kirche des Mittelalters übte eine heidnische Priesterkaste eine schreckliche Herrschaft über Millionen Seelen aus, die sie fern hielt vom Licht des Evangeliums, und durch ihr religiöses System in Knechtschaft hielt und ausbeutete. Die Priester traten als Vermittler zwischen dem Menschen und Gott auf, die den Kirchenchristen durch ihre magisch wirksamen „heilsvermittelnden“ Handlungen, die Sakramente, Sündenvergebung und Annahme im Himmel versprachen.

Nicht der einfache Glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Heiland Jesus Christus brachte nach ihren Irrlehren das Heil, sondern dazu war es nötig, daß ein ordentlich geweihter Priester der römischen Kirche dem Menschen „Sakramente“ spendete. Die Kette dieser unbiblischen Zauberhandlungen begann mit der Säuglingstaufe, durch die ein Mensch angeblich zum Kind Gottes wurde und Rettung empfing; danach ging es weiter, u.a. mit der Sündenvergebung, die man nur durch Beichte bei einem Priester mit nachfolgender „Absolution“ bekam, nicht durch den Herrn selbst.

Das Mahl des Herrn, als Erinnerungsmahl und Zeichen eingesetzt, wurde zu einem magischen Mittel der Heilsvermittlung, bei dem der Katholik angeblich Leib und Blut Christi in sich aufnahm; außerdem war dies als wirksames immer wiederholtes Opfer umgedeutet worden, das der Priester zur „Vergebung der Sünden“ darbringen mußte. Das ganze Heil eines Katholiken hing also von den Priestern und ihren Sakramenten ab. Durch Beichte und Auferlegung von Bußhandlungen und das Recht, die Absolution zu geben oder zurückzuhalten, hatten die Priester eine unheimliche Macht über die Seelen der Menschen, die sie allzuoft schlimm mißbrauchten, auch, um sich zu bereichern.

Die römische Kirche hatte die Irrlehre vom „Fegefeuer“ erfunden, in dem angeblich jede Seele im Jenseits noch qualvoll und für lange Zeit die Sünden abbüßen müßte. Andererseits erfand die Kirche auch die Irrlehre, daß sie durch die Verdienste irgendwelcher „Heiliger“ und Christi selbst über einen Schatz an guten Werken verfüge, den sie gegen Zahlung von Geld einsetzen könne, um das Leiden der Seelen im Fegefeuer zu erleichtern. Der sündige Katholik konnte also schon hier durch Spenden, Almosen, Wallfahrten oder auch durch den Kauf von „Ablässen“ seine künftige Leidenszeit im Fegefeuer verkürzen; dieselben finanziellen Investitionen konnte er auch benutzen, um die Leiden schon verstorbener Angehöriger zu erleichtern.

Auch sonst war die katholische Kirchenfrömmigkeit durchsetzt vom schlimmsten heidnischen Aberglauben. Früh schon waren die alten heidnischen Götter durch katholische „Heilige“ ersetzt worden, die wegen aller möglichen Dinge angerufen werden konnten und deren Festtage direkt von den früheren Götzenfesttagen übernommen wurden. Maria galt als wundertätige und barmherzige „Himmelskönigin“ und Mittlerin; sie wurde verehrt und angerufen und immer mehr erhöht. Aber die Menschen erwarteten Heil und Hilfe auch durch alle möglichen abergläubischen Bräuche wie das Sich-Bekreuzigen, durch Gebrauch von „Weihwasser“, Amuletten und wundertätigen Reliquien, Verehrung von Bildern und Statuen usw.

In den heidnischen Ritualen der römischen Kirche nahm das Wort Gottes nur einen ganz geringen Raum ein. Über lange Zeit wurden nur einzelne Bibelworte auf Lateinisch in den „Gottesdiensten“ verlesen. Die Priester waren zum Teil sehr unwissend und kannten oftmals die Bibel selbst gar nicht; sie konnten lediglich die vorgeschriebenen Ritualsprüche der Gottesdienste auf Lateinisch herleiern. Viele Priester waren dem Volk ein Anstoß durch ihre Faulheit, Geldgier und offenbare Hurerei.

Auch Bischöfe und hohe Geistliche ergaben sich zum Teil in unverschämter Gewinnsucht und Amtsmißbrauch. Für sie war die Bibel ein gefährliches Buch, das in der Hand der „Laien“, des einfachen Kirchenvolkes, zu einer Bedrohung ihrer Macht werden könnte. Deshalb verboten sie fast überall das Lesen der Bibel in den Volkssprachen und erlaubten nur die lateinische Vulgata-Bibel, die nur wenige verstanden, und das auch nur mit Einschränkungen.

Die Menschen lebten unter dem Katholizismus mit einer im Kern heidnischen Religion, die ihnen zwar ein verzerrtes Bewußtsein ihrer Sünden vermittelte, ihnen aber die befreiende Botschaft von der Begnadigung und Sündenvergebung durch den kindlichen Glauben an den Erlöser Jesus Christus vorenthielt. Viele Menschen sehnten sich nach Vergebung, und sie wurden an die römischen Priester verwiesen, die ihnen die Rettung durch die Kindertaufe, durch die Eucharistie und allerlei Sakramente und Erlässe versprachen. Die Priester waren die wichtigsten Mittler in diesem auf Lüge und Betrug aufgebauten System; sie besaßen angeblich die „Schlüsselgewalt“ des Petrus, in den Himmel einzulassen oder auszusperren, und hatten darum eine düstere, unheimliche Macht über die Seelen.

Christus wurde als der drohende Richter hingestellt, zu dem man kaum zu beten wagte; dafür stellte man den suchenden Menschen allerlei Heilige und die falsche Himmelskönigin Maria vor, die angeblich barmherzig seien und den Menschen bei Gott ein Durchkommen ermöglichten. Die Menschen suchten ihre Sündenlast durch eifriges Beten zu Maria und den Heiligen, durch Wallfahrten und Gelübde, durch Spenden an die Kirche loszuwerden und spürten doch dumpf, daß dies alles vergeblich war. Sie sahen auch das Treiben der Priester und Bischöfe, die sich als „heilige Stellvertreter Christi“ hinstellten und zugleich in Reichtum schwelgten, die Menschen erpreßten und beherrschten, in allerlei Hurerei und üblen Sünden lebten und schlimmer waren als die Pharisäer.

Im Volk wuchs Enttäuschung und Wut; immer wieder wurden Stimmen laut, die römische Kirche sei in Wahrheit die Hure Babylon und der Papst der Antichrist. Solche Kritiker wurden eingeschüchtert und verfolgt, aber sie hielten sich darum desto hartnäckiger unter den Menschen. Nicht nur die einfachen Menschen waren zunehmend abgestoßen von dem römischen System, auch die aufstrebende Bürgertum in den Städten, die Handwerker, Händler und Beamten erkannten mehr und mehr die Verlogenheit der katholischen Religion und suchten nach Wahrheit, nach dem Echten; dasselbe galt für manche Fürsten und Adlige.

 

 

c. Die kirchliche Machtpolitik in der abendländischen Gesellschaft

 

Im Lauf des Mittelalters hatte die Kirche über die ganze „christliche“ Gesellschaft ein Netz von Zensur und grausamer Ketzerverfolgung gespannt. Das Machtinstrument der Inquisition wurde ausgiebig genutzt, um kirchenkritische oder andersdenkende Menschen, nicht zuletzt auch wahre Gläubige, die sich außerhalb der Kirche versammelten, aufzuspüren, anzuklagen, zu foltern und hinzurichten. Dabei arbeiteten die staatlichen Einrichtungen aufs engste mit der Kirche zusammen.

Durch die Bischöfe und vor allem durch die obersten Bischöfe, die römischen Päpste, übte die Kirche auch eine intrigenreiche Macht über die weltliche Obrigkeit aus, die sich ja als „christlich“ verstand. Der römische Papst und die römische Kirche erhoben den Anspruch, über den weltlichen Autoritäten zu stehen. Sie maßten sich das Recht an, Könige und Kaiser, Fürsten und Mächtige abzusetzen, weil sie angeblich als „Stellvertreter Christi auf Erden“ von Gott die Befugnis dazu hätten.

Mehrfach hatten die Päpste über das Machtmittel des Kirchenausschlusses und des Bannes schon Könige und Kaiser auf die Knie gezwungen und ihnen ihre Bedingungen aufgezwungen (vergleiche den berühmten „Canossagang“ des Königs Heinrich IV.). Deshalb wurde die römische Kirche auch bei dem Volk und bei den Fürsten und Königen der einzelnen europäischen Länder zunehmend unbeliebt. Das hing auch mit den vielfältigen Steuern, Abgaben und Sonderzahlungen zusammen, die sich die römischen Päpste geschickt von den einzelnen Ländern zu verschaffen verstanden, um ihre Kriegs- und Machtpolitik und ihren aufwendigen Lebensstil finanzieren zu können.

Eine Schlüsselrolle in der Macht der römischen Kirche spielten im Mittelalter die zahlreichen Mönchsorden. Sie waren zumeist erfüllt von der finsteren Religiosität der Mystik, die ebenfalls zutiefst heidnische Quellen hat und letztlich Okkultismus und Dämonie beinhaltet. Sie waren aber auch im Besitz beträchtlicher Mittel an Macht, Einfluß und intellektuellem Potential. Zumeist vertraten sie eifrig die Sache der Papstkirche und unterstanden großenteils auch unmittelbar den Päpsten, die sie oft geschickt für ihren Machtausbau zu nutzen verstanden.

Die Kirche beherrschte auch das Bildungssystem, die Künste und die Kultur. Sie suchte die ganze Gesellschaft von oben her „christlich“ zu regieren und zu kontrollieren. Sie redete noch von Christus und vom Evangelium; in Wahrheit aber hatte sie den Menschen unter ihrer Herrschaft das wahre Evangelium vorenthalten und sie von einer lebendigen Glaubensbeziehung zu dem Herrn und Erretter Jesus Christus abgehalten. So war das Mittelalter mit all seinen Errungenschaften geistlich gesehen eine zutiefst finstere Zeit.

 

 

2. Kleine Lichter mitten in der Finsternis – wahre Gläubige außerhalb und am Rand der Kirche

 

Nur kurz wollen wir hier darauf eingehen, daß die Vorherrschaft der katholischen Kirche seit dem 4. Jahrhundert keineswegs die Existenz echter biblisch gegründeter christlicher Gemeinden ersticken konnte. Der Herr Jesus hatte ja verheißen, daß Er Seine Gemeinde bauen wird, und daß die Pforten des Totenreiches sie nicht überwältigen werden (Mt 16,18). Es hat zu allen Zeiten wahre Gläubige gegeben, die mit dem katholischen Aberglauben nicht einverstanden waren und sich, oft unter Verfolgung und Lebensgefahr, in eigenen Gemeinden versammelten.

Solche echten Christen wurden von der römischen Kirche als „Ketzer“ abgetan und oft übelst verleumdet; man suchte ihnen allerhand böse Lehren und Praktiken anzuhängen – ganz ähnlich, wie es die Heiden in den ersten Jahrhunderten mit allen Christen gemacht hatten. Die herrschende Kirche hat versucht, ihre Spuren und ihr Angedenken auszulöschen, aber das ist nicht vollständig gelungen. Wir wissen von kirchenoppositionellen Bewegungen, die bestrebt waren, das biblische Evangelium und die biblische Lehre von der Nachfolge und dem Gemeindeleben auszuleben, wenn auch mit manchen Schwachheiten.

Einige Namen seien stellvertretend für viele anderen genannt. Da gab es im 4. Jahrhundert in Spanien und Frankreich die Bewegung der „Priscillianer“, deren Begründer als Ketzer hingerichtet wurde. Da gab es im 7. Jahrhundert in Armenien und Syrien die „Paulizianer“, die brutal verfolgt wurden; da gab es ab dem 12. Jahrhundert in Italien und Südfrankreich die Bewegung der Waldenser, die unter schwerer Verfolgung ihren Glauben in abgelegenen Tälern lebten. Ihr Sprecher, Petrus Valdes, hatte als wohlhabender Kaufmann zwei Priester dazu gebracht, gegen das kirchliche Verbot das Neue Testament ins Provenzalische zu übersetzen. Valdes wurde von Gottes Wort ergriffen und lebte danach für den Herrn; er selbst predigte in der Volkssprache und die Gemeindebewegung der Waldenser sandte viele Prediger aus, die das Evangelium in der Volkssprache verkündeten und viele Menschen zum Glauben führten.

Überall bei dem echten Christen war die Bibel der Mittelpunkt des geistlichen Lebens. Wohl mußten Bibeln mühsam abgeschrieben werden, aber dies wurde in den Kreisen der Gläubigen mit Fleiß und Hingabe getan. Wahrscheinlich waren Vollbibeln selten, aber gewiß gab es manche Abschriften der Evangelien und der Briefe auch bei Gläubigen, die des Lesens kundig waren. In den Gemeindeversammlungen wurde Gottes Wort vorgelesen und danach ausgelegt, sodaß die Bibel und das herrliche Evangelium der Gnade in Christus in die Herzen eingeprägt wurden.

Auch unter den „Katharern“ in Südfrankreich und hinter anderen Sektennamen, von denen teilweise schlimme Irrtümer behauptet wurden, könnten wir wahrscheinlich wahre Gläubige finden, die von Rom verleumdet und bitter verfolgt wurden. Oft fehlen die historischen Beweise, weil sie vernichtet wurden. Aber wir kennen einen ähnlichen Vorgang aus der Reformationszeit, wo die friedlichen und biblisch gläubigen Täufer von Katholischen und Refomatorischen gleichermaßen mit den abscheulichen Aufrührern der Müntzer-Anhänger in einen Topf geworfen wurden, die in Münster eine schlimme Diktatur mit bösen Ausschweifungen errichtet hatten. So waren gewiß auch viele „Paulizianer“ und „Albigenser“, denen man schlimme Irrtümer vorwarf, in Wahrheit schlichte, treue Gläubige, die nach der Bibel zu leben suchten und dafür verfolgt und geächtet wurden.

Im 14. und 15. Jahrhundert zeigten sich deutliche Auflösungserscheinungen der römischen Machtherrschaft über die Seelen der Menschen in Europa. Die Menschen waren das Diktat der römischen Priesterkaste leid. Die neuen Schichten des städtischen Bürgertums erwarben Wohlstand und Bildung. Die Fürsten und Könige der Länder strebten nach mehr Unabhängigkeit von der Macht der Päpste und von ihrer geldgierigen Abgabenpolitik. Der Anspruch der Kirche, im Besitz der allein seligmachenden Lehre zu sein, wurde immer mehr von suchenden Menschen in Frage gestellt. Papsttum und Kirche befanden sich in einer Dauerkrise, weigerten sich jedoch, einschneidende Änderungen einzuleiten. Forderungen nach einer tiefgreifenden Reform der Kirche wurden immer lauter.

Ein vorbereitendes Wetterleuchten der späteren Reformation finden wir im 14. Jahrhundert in den Bewegungen von John Wiclif in England und von Johannes Hus in Böhmen. John Wiclif (ca. 1328-1384) war ein Theologieprofessor in Oxford, der die Bibel sehr gut kannte und durch sie zum lebendigen Glauben an Christus gekommen war. Er protestierte ab 1377 gegen die Mißbräuche der römischen Kirche; später übersetzte er die Bibel aus der katholischen Vulgata-Übersetzung ins Englische. Er arbeitete mit Wanderpredigern (den „Lollarden“) zusammen, die weithin unter dem Volk das Evangelium verkündeten und viel Anhänger unter dem Volk gewannen. Die Wiclif-Bibel wurde in Abschriften weit unter dem Volk verbreitet, auch wenn die katholischen Oberen diese Bibeln verfolgten und zu vernichten suchten. Trotz schwerer Bedrückungen hielt sich die Lollarden-Bewegung in England bis in die Reformationszeit.

In Böhmen breitete sich die Lehre Wiclifs durch junge Adlige aus, die in Oxford studiert hatten. Dort brach eine Reformbewegung auf, deren Führer der Universitätslehrer und Prediger Johannes Hus (ca. 1369-1415) war. Die Bewegung der „Hussiten“ breitete sich in Böhmen weithin aus und fand besonders auch die Unterstützung der Prager Bürgerschaft; die römische Kirche suchte sie gewaltsam zu unterdrücken und erreichte, daß Hus 1415 während des Konstanzer Konzils als Ketzer verbrannt wurde. Dennoch läßt sich die geistliche Reformbewegung in Böhmen nicht unterdrücken; sie geht in anderen Formen weiter. Hus hat die Bibel in böhmischer Sprache, die schon vor ihm übersetzt wurde, bearbeitet und sich für ihre Verbreitung eingesetzt.

Bei diesen umwälzenden Bewegungen spielt die Bibel, Gottes Wort, eine revolutionäre Schlüsselrolle: Sowohl Wiclif als auch Hus und ihre Mitstreiter berufen sich darauf, daß die Bibel als Gottes heiliges Wort die höchste, ja die einzige Autorität in Glaubensfragen ist – ein Standpunkt, der die ganze Macht der katholischen Priesterkaste in Frage stellte und bedrohte. Sie sorgen dafür, daß die Bibel in der Volkssprache verbreitet und verkündigt wird, und das ist das Entscheidende an diesen Bewegungen: sie berufen sich auf die Bibel, sie leben nach der Bibel, sie bringen die Bibel zum Volk, und viele aus dem Volk antworten, indem sie gläubig werden. Sie werden blutig unterdrückt und als „Ketzer“ verleumdet – aber Gottes Wort erweist sich als eine Macht, die stärker ist als die Bannsprüche der Päpste und die Folterinstrumente der Inquisition. Das Licht des Wortes Gottes sollte von nun an nicht mehr auszulöschen sein.

Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert? (Jeremia 23,29)

 

 

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus der Schrift Gottes Wort auf dem Leuchter: Vorgeschichte und Bedeutung der Reformation von Rudolf Ebertshäuser.

 

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