Die Antwort auf diese Frage ist gegeben im Brief des Paulus an die Römer, Kap. 5,20: „Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden.“
Zwei Mächte bewegen die Menschheit: die Macht der Sünde und die Macht der Gnade. Beide Mächte wirken in jedem einzelnen Menschen, und es kommt nur darauf an, welche Macht die stärkere in dir geworden ist. Denn beide Mächte liegen im Kampf miteinander, der nicht eher aufhört, als bis eine Macht Sieger geworden ist. Viele versuchen heute diesen Kampf und Gegensatz und damit die beiden Mächte selber aus der eigenen Brust und der Welt hinauszuleugnen, indem sie weder von Sünde noch von Gnade etwas wissen wollen. Sie nennen sich gern „Monisten“, weil sie an keine Zerteilung der Welt in zwei Machtbezirke, in ein Reich des Lichts und der Finsternis, glauben, sondern die Welt einheitlich, „monistisch“ begreifen möchten. Das Wort von den beiden Mächten Sünde und Gnade ist ihnen nur rückständiger „Dualismus“, das heißt verwerfliche Zerteilung des Weltganzen.
Aber der Riß, der durch Welt und Mensch geht, läßt sich nicht hinwegreden; er besteht, und seiner wehen Tiefe kann keiner entfliehen. Keine Entwicklung, keine Kultur füllt diese Tiefe aus. Im Gegenteil, jede Entwicklung macht den Riß nur tiefer, die Gegensätze nur reifer; denn welche Gemeinschaft hat das Licht mit der Finsternis, welche Übereinstimmung Christus mit Belial? (2.Kor. 6,14-15). So tobt denn der Kampf, bis er ausgekämpft, die Macht der Sünde als eine Fremdmacht aus der Schöpfung hinausgebannt ist und Menschheit, Erde und Himmel erneuert sind durch die Macht der Gnade. Bis dahin bleibt der furchtbare Kampf zwischen der Macht der Sünde und der Macht der Gnade, zwischen Belial und Christus, Unglauben und Glauben tatsächlich – wie Goethe bekennen mußte – „das tiefste Thema der Weltgeschichte“.
Und ebenso bleibt diese Erde bis dahin „eine Pflanzschule für eine Welt von Geistern“ – wie wiederum Goethe sich ausdrückte –, wo jeder einzelne Menschengeist sich entscheiden muß, entweder für die Macht der Sünde oder die Macht der Gnade; denn darin besteht des Menschen alleiniger Lebenszweck. Damit du zur rechten Entscheidung gelangest, hörst du jetzt diese Worte.
I.
Prüfen wir zunächst die Macht der Sünde. Da könnte ich nun viel reden von Zuchthäusern, Armenhäusern, Hurenhäusern, Irrenhäusern, Krankenhäusern und allen Häusern aller Menschen; denn die Sünde ist überall da zu Hause, wo der Mensch haust; die Spuren ihrer Macht reichen so weit, als der Mensch Macht hat, die Erde zu bevölkern. Aber solch weites und breites Reden von der Macht der Sünde würde uns wenig nützen, blickt doch der Mensch, sobald er von Sünde hört, sofort auf die anderen „bösen, bösen Leute“ in der Welt und hält sich selbst für die beste Ausnahme. Die Bibel faßt die Macht der Sünde in die Worte zusammen: „Die Sünde ist der Leute Verderben“ (Sprüche 14,34). Dieser Spruch wäre tatsächlich die zutreffendste Überschrift über die Tür jedes Hauses. „Verderben“ oder auch „Schande“, wie man jenes Wort lesen könnte, das ist die beste Gesamtkennzeichnung der Macht der Sünde, nämlich schmachvoller Untergang vor dem heiligen Gott. Geht man indes aufs einzelne, so könnte man eine dreifache Wirkung der Macht der Sünde beobachten.
Erstens:
die Macht der Sünde ist eine verfinsternde, verblendende Macht. Ist sie doch die Macht der Finsternis! Alle Beschränktheit des menschlichen Geistes und alle Lebensrätsel haben ihre tiefste Ursache in der Sünde. Ebenso der Unglaube. Das verstehen indes nur diejenigen, die durch die Macht der Gnade erleuchtet worden sind. Es ist der schauervollste Fluch der Sünde, daß sie den Menschen in geistliche Blindheit schlägt. Hinter der Finsternismacht der Sünde steht der „Fürst der Finsternis“, Satan, der „Gott dieses Zeitalters“, welcher den Sinn der Ungläubigen verblendet hat, damit ihnen nicht ausstrahle der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus, welcher das Bild Gottes ist (2. Kor. 4,4). So ist den Ungläubigen das Evangelium „verdeckt“ (Vers 3), und das Wort vom Kreuz Christi, von wo die Gotteskraft und Gottesmacht der Gnade ausströmt, ist ihnen eine „Torheit“ (1. Kor. 1,18).
Diese intellektuelle Verfinsterung entspricht dem allen Menschen angeborenen Sündenzustand, der den Abfall des Menschen von Gott, der Quelle ewiger Weisheit, kennzeichnet. Wohl ist dem Menschen noch Weisheit gelassen zum Essen, Trinken, Kaufen, Verkaufen, Pflanzen, Bauen usw. (Luk. 17, 28); aber die Weisheit, Gott und Göttliches wesentlich zu erfassen, haben sie mit dem Sündenfall verloren. Seitdem ist es tragisch, in der Geschichte der Menschheit wahrzunehmen, welche verzweifelte Anstrengungen das gefallene Geschlecht macht, sei es in Religion, Philosophie, Literatur, Kunst, Technik, über die Grenzen seines verfinsterten Geistes hinauszukommen, und wie es trotz alles äußeren Fortschrittes doch nicht die intellektuelle und moralische Qualität zu verändern vermag. Denn alle diese Anstrengungen haben weder die Gotteserkenntnis vermehrt, noch die Macht der Sünde verringert.
Denn Hand in Hand mit der intellektuellen Trübung geht die moralische Verfinsterung. Die Sünde macht auch blind für die Sünde. Das ist das eigentliche Totsein in Vergehungen und Sünden, daß man bis zu einem gewissen Grade unempfindlich geworden ist sowohl der Heiligkeit Gottes und seines Evangeliums, als auch der Abscheulichkeit der Sünde gegenüber (Eph. 2,1-7). Bis über die Ohren steckt man im Ungehorsam gegen Gott, und zur selben Zeit hält man seinen Zustand für höchst hoffnungsvoll und normal.
Wie bestätigt sich doch uns Evangelisten täglich diese Bibelwahrheit! Besonders in unserer sommerlichen Zeltarbeit, wo die Leute so bequem ins Missionszelt hinein- und wieder hinausschlüpfen können. Da bekommt man mit der Zeit ein so erfahrenes Auge, daß man es den Hereinkommenden schon ungefähr ansehen kann, wie lange sie es unter dem Bibelwort aushalten werden.
Erst interessiert sie das Äußerliche, dann hören sie ein wenig auf die Worte der Ansprache, dann wird ihr Gesicht ganz ausdruckslos, und sie fangen an, zu sich selbst zu sagen: Was ist denn das für ein Blödsinn, den ich da höre! – man merkt, sie haben gar kein Organ zum Verständnis und zur Aufnahme des Wortes Gottes –, dann werden sie unruhig, sehen nach der Uhr, es wird ihnen unerträglich, und: Nun aber raus, an die frische Luft; denn da drinnen war’s fürchterlich! – Tot, tot, tot, sowohl geistlich als moralisch! Und das ist sowohl die Erfahrung mit Leuten aus der „besseren Gesellschaft“ als auch mit dem „Pöbel“. Und da will man uns belehren, die Bibel sei nicht mehr Wahrheit, wo uns doch ihre Aussagen über das Wesen des Menschen sekundlich so bestätigt werden!
Zweitens:
Die Macht der Sünde ist eine befleckende Macht von bleibender Wirkung. Ich habe noch keinen Menschen angetroffen, der seine Sünden, die Früchte seines angeborenen Sündenzustandes, hätte vergessen können. So tot der Mensch in Übertretungen und Sünden ist, so befindet sich doch in der Dunkelkammer seines geheimsten Bewußtseins eine nie ganz auszurottende Empfindsamkeit für die schwarzen Wirkungen der Sünde. Wie mit Feuer eingebrannt, wie durch Säure eingefressen haftet die geschehene Sünde im Gedächtnis und Gewissen des Sünders als unaustilgbares Brand- und Schandmal. Nie kann der Unreine seine schwarze Schande weiß waschen, nie der Betrüger seinen Betrug, nie der Dieb seine Dieberei vergessen.
Ich las von einem Mann, der sich zwanzig Jahre lang bemüht hatte, einen von ihm verübten Kassendiebstahl zu vergessen. Er war, um die Sache totzukriegen, Freidenker, Gottesleugner, Materialist geworden, hatte sich täglich unter Anwendung aller „gesunden Vernunft“ zu beweisen gesucht, daß es im Grunde genommen weder gut noch böse, noch ein Gewissen, noch Gott, Ewigkeit und Gericht gäbe. Und nach Verlauf von zwanzig Jahren brannte seine Tat noch gerade so heiß in seinem Innersten als nach Verlauf der ersten Stunde, da sie geschehen war. Ein anderer war damals an seiner Stelle verhaftet und bestraft worden und war im Gefängnis gestorben.
Wie oft hatte der wahre Täter jenen anderen innerlich loszuwerden gesucht! Er lief zu einem, wie er meinte, ungläubigen Arzt, um sich von diesem untersuchen und sagen zu lassen, daß er es an der Leber oder Lunge oder am Magen habe, aber daß es nimmer mehr ein Gewissen gäbe. Der durchaus nicht ungläubige Arzt konnte ihm aus der Tatsache der von der befleckenden Macht der Sünde herrührenden Gewissensqual nur die Tatsache des Gewissens bestätigen und riet ihm, sich dem himmlischen und irdischen Richter zu stellen. Das geschah. Der Gequälte kam unter die Macht der Gnade des himmlischen und unter die Macht der strafenden Gerechtigkeit des irdischen Richters und starb selig im Gefängnis. – Du hast vielleicht keinen Kassendiebstahl begangen, aber dennoch weißt du ganz genau, wo dich der Schuh drückt und der Teufel reitet, wie man ganz treffend zu sagen pflegt; denn du weißt von Sünden, wie tugendhaft oder aufgeklärt du dich auch gebärden magst. Siehe, die schauerliche Tatsache gilt auch dir, du kannst die befleckende Macht der Sünde nicht loswerden! Sie haftet.
Drittens:
Die Macht der Sünde ist eine knechtende und mörderische Macht. Die meisten Leute finden das Reden von der Macht der Sünde ganz unerträglich plump, roh, krankhaft, störend, lähmend, unästhetisch und unpsychologisch. Da machen sie sich schnell ein moralisches Sprüchlein zurecht, um dem unangenehmen Eindruck entgegen zuarbeiten. So stieß ich kürzlich in einer Stadt auf folgendes Glaubensbekenntnis eines Ungläubigen:
„Das einzige Glück – die Pflicht,
Der einzige Trost – die Arbeit,
Der einzige Genuß – die Schönheit.“
Welch eine verzweifelte Hoffnungslosigkeit der knechtenden Macht der Sünde gegenüber steckt in diesen drei Zeilen! Wenn unser einziges Glück die Pflicht ist, dann ist’s kein Wunder, daß sich die Menschen durchweg so unglücklich fühlen; denn wer tut allezeit seine Pflicht? Ich suche jetzt schon seit Jahren nach diesem Mustermenschen, der wirklich und tatsächlich allezeit seine Pflicht getan hat. Man mußte ihn durch alle Straßen führen und auf allen Weltausstellungen prämiieren. Aber ich habe ihn noch nicht gefunden. Vielleicht ist er hier. Er melde sich doch! Niemand? Ich habe es mir gedacht. –
Ferner: Der einzige Trost die Arbeit? O, wehe dann allen Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen, Kranken und Alten, die nicht mehr arbeiten können. Sie sind hoffnungslos der Trostlosigkeit preisgegeben; denn ihnen fehlt die Arbeit. Aber ist die Arbeit denn der Trost der Gesunden? Dämonische Leidenschaft des Schaffenmüssens ist sie für manche, ein Geißelhieb für alle Geld- und Ehrgeizigen, eine Zerstreuung für alle, denen das Wort Pascals gilt: „Der Mensch sucht nichts so sehr als sich selbst, und er flieht zu gleicher Zeit nichts so sehr als sich selbst“ –; und im übrigen ist die Arbeit das furchtbarste, trostloseste Joch für alle, die im Schweiße ihres Angesichtes sich auf Erden abmühen, wenn sie nicht wissen, wofür sie leben und arbeiten; und das sagt ihnen allein die Gnade im Evangelium. Ohne die Macht der Gnade ist auch das jetzt so beliebte Carlylesche Wort: „Arbeiten und nicht verzweifeln!“ nur ein Ausruf plattester Verzweiflung; denn nimmermehr bricht die Arbeit die knechtende Macht der Sünde, die die Quelle unserer geheimen und offenbaren Verzweiflung ist.
Bräche die Arbeit die unselig knechtende Macht der Sünde, so müßten wir längst in einer trostreichen, sündenfreien Kultur leben; denn zu keiner Zeit ist so intensiv gearbeitet worden wie heute. – Ebensowenig hilft dem Menschen der Genuß der Schönheit. Die Kunst kann uns im besten Falle ein erhebendes Ahnen des Göttlichen, für das wir bestimmt sind, verschaffen, aber bleibend und erlösend herausheben aus der gemeinen bändigenden Macht der Sünde und unseren fluchbeladenen Lebensverhältnissen, das vermag kein Kunstgenuß. Im Gegenteil, für die meisten ist der Kunstgenuß nur ein Sprungbrett zum Sündengenuß, also nur Ursache zu neuer Verstrickung in die knechtende, mörderische Sünde.
So bleibt es also dabei, die Macht der Sünde ist eine herrschende, knechtende, alle Lebensfreude zerstörende, die Menschen entzweiende, mörderische Macht. Sie ist das heimliche und doch so offenbare Ungenüge, das an unserem Leben zehrt, die stete innere Verzweiflung, die uns lähmt, der böse Alpdruck, der auf uns lastet, die schwarze Wolke, die sich immer wieder über unserem Haupt sammelt, der dunkle Schatten, der Stirn und Auge trübt. – Ich möchte allen Ungläubigen wünschen, einmal vier Wochen lang unseren Sprechstunden beizuwohnen. An den erschütternden Bekenntnissen der Unglücklichen, die heilsuchend uns zu sprechen begehren, könnten sie die mörderische Macht der Sünde studieren. Sie müßten dann einsehen lernen, daß dieser Macht gegenüber nicht Moralpredigt, noch Arbeit, noch Kunst, noch irgend etwas Menschliches hilft, sondern daß da eine Macht einsetzen muß, die mächtiger als alle Menschenmacht ist, nämlich die von oben kommende göttliche Macht der Gnade.
II.
Prüfen wir jetzt diese Macht der Gnade. Was ist Gnade? Ich sage so: Gnade ist in Christus Jesus uns mitgeteilte Gotteskraft. „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern errettet werden“ (Joh. 3,16).
Jesus ist die verkörperte Liebe Gottes zu den Menschen. Wie denn? Nun, Jesus ist schon vor Grundlegung der Welt Bürge geworden für unsere Sündenschuld. Meinst du, Gott habe etwa überrascht werden können durch den Sündenfall? Weit gefehlt! Er hatte Jesus, den Christus, den Messias, bereit, längst ehe Adam oder Abraham ward (Joh. 8,58). Nur im Hinblick auf Jesus, das vor Grundlegung der Welt ersehene Schlachtschaf, das als Lamm Gottes der Welt Sünde hinwegtragen sollte, ist die Welt und was drinnen ist, geschaffen worden. „Alle Dinge sind durch und für ihn geschaffen“ (1.Petr. 1,19; Kol. 1,16; Joh. 1,1-3 und 29). „Denn es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle der Gottheit, in ihm zu wohnen und durch ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen“ (Kol. 1,19.29).
Alles im Hinblick auf Jesus und durch Jesus geschaffen und mit allem im Hinblick auf Jesus und durch Jesus versöhnt: das ist der Inhalt der Gnade und Liebe Gottes. Dazu wurde der ewige Christus offenbart als der zeitlich erschienene Gottes- und Menschensohn Jesus von Nazareth, daß er sich nun haftbar machte als stellvertretender Bürge und Haupt der Menschenfamilie und das Liebesopfer für uns brachte auf Golgatha. Die ewige Liebe Gottes gab für uns den Sohn, und die ewige Gerechtigkeit erforderte seinen Opfertod am Kreuze. Dort brach die Macht der Sünde über den sündlosen Bürgen herein, der die Strafe und das Gericht über unsere Sünde an unserer Statt empfing, damit wir Frieden hätten, und für uns zur Sünde gemacht wurde, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm (Jesaja 53,5 und 2.Kor. 5,21).
Seitdem ist die Macht der Sünde gebrochen; denn der Fürst der Finsternis ist gerichtet, meine Schuld bezahlt, ich mit Gott versöhnt, indem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes (Kol. 1,20). So strömt vom Kreuze Christi die für uns frei gewordene Gotteskraft in die Welt als Macht der Gnade, die viel größer ist als alle Macht der Sünde (1.Kor. 1,18; 2.Petr. 1,3; Joh. 1,17; Luk. 22,20). Der Riß, der durch Welt und Menschen geht, ist überbrückt, die Sünde braucht das Geschöpf nicht mehr zu trennen vom Schöpfer, es gibt einen Weg zurück zu Gott, einen von Gottes Liebe geschaffenen Gnadenweg: der neue und lebendige Weg heißt Jesus (Joh. 14,6; Hebr. 10,20).
Jeder Mensch, der sich jetzt vor dem Kreuze Christi als verurteilter, bankrotter Sünder einfindet und die Tat Gottes in Christus im Glauben für sich in Anspruch nimmt, hat nun teil an der die Macht der Sünde weit übersteigenden Macht der Gnade.
Und nun gib acht, wie die Macht dieser Gnade alle vorhin angeschaute Macht der Sünde überschwenglich aufhebt.
Erstens:
Die Macht der Gnade erleuchtet. Als erste Wirkung der Macht der Sünde betrachteten wir, sie verfinstert; gottlob, die erste Wirkung der Macht der Gnade ist, sie erleuchtet! Das Licht richtet die Finsternis und verwandelt sie in Licht (Eph. 5,13).
Ich las auch früher in der Bibel; aber ich verstand sie nicht. Als mich die Gnade erfaßte, wurde es mir hell in der Bibel. Ich bedauerte auch früher meine Untugenden und suchte mich zu bessern; aber als mich das Licht der Gnade traf, sah ich den unverbesserlichen finstern Ruin meines Herzens und flüchtete als ein Verlorener zum Kreuze unter die Gnade.
Allein die erleuchtende Macht der Gnade zeigt uns, wer wir sind und wer Gott ist und was die Welt ist und wer Jesus ist und auch wer Satan ist. Weil die Gnade Licht von Gott, dem ewigen Lichte, ist, so muß die Verfinsterung unseres gefallenen Verstandes weithin zurückweichen. Die erleuchtende Gnade macht uns fähig, Gott und seine Geheimnisse zu erkennen und zu erforschen (1.Kor. 2,14). Jawohl, ein im Geisteslicht der Gnade Gottes wiedergeborener Mensch besitzt reichere Weisheit als jeder Weise dieser Erde. „Ihr seid“, sagt Jesus, „das Licht der Welt.“
So hebt die Macht der Gnade die intellektuelle und moralische Verfinsterung als Folge der Sündenmacht weit auf und schenkt uns die Fähigkeit zu glauben. Daß ich, der so ungläubig war wie ein Türpfosten, heute an das Opfer von Golgatha glauben kann, ist allein die Folge der erleuchtenden, errettenden Macht der Gnade in meinem Leben. O himmlisches Wunder! Wie anders sieht die Welt aus, wenn das Opfer Christi der Mittelpunkt der Welt geworden ist! Welche Ströme des Lichtes und der Weisheit fließen einem da vom Kreuze zu! Ja, Christus ist uns gemacht von Gott zur Weisheit! (1.Kor. 1,30). Gepriesen sei er dafür!
Zweitens:
Die Macht der Gnade reinigt von jeder Befleckung und Schuld der Sünde auf immerdar. Als zweite Wirkung der Macht der Sünde fanden wir, sie befleckt und quält das Gewissen. Als zweite Wirkung der Macht der Gnade können wir bezeichnen: sie reinigt durch das Blut des Christus unser Gewissen von den toten Werken (Hebr. 9,14) und löst los vom bösen Gewissen (Hebr. 10,22). „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von jeder Sünde“ (1.Joh. 1,7).
O wie jauchzt das Herz auf, wenn es durch die Erleuchtung der Gnade erst einmal fassen kann, daß es begnadigt ist „in dem Geliebten, in welchem wir die Erlösung haben durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen, nach dem Reichtum seiner Gnade, welche er gegen uns hat überströmen lassen …“ (Eph. 1,7-8). Ja, es ist eine „überströmende“ Gnade, diese reinigende und vergebende Gnade, die viel, viel mächtiger ist als die Macht der Sünde; denn sie tilgt jede Spur von Sündenschmutz und Sündenschuld bis zu dem Grade, daß der Begnadigte erfahren darf: „Wenn jemand in Christus ist, das ist eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden“ (2.Kor. 5,17). Gott sei Dank! Christus ist uns gemacht zur Gerechtigkeit! (1.Kor. 1,30).
Drittens:
Die Macht der Gnade rettet von der knechtenden Macht der Sünde und des Todes. Die dritte Wirkung der Macht der Sünde ist, sie knechtet, mordet und verdirbt. Die viel größere Macht der Gnade aber ist: sie befreit nicht nur von der befleckenden Schuld der Sünde, sondern sie bricht auch die Macht der Sünde, nämlich sie befreit, belebt und heilt. Was kein Moralgesetz und Strafgesetz, keine menschliche Anstrengung noch Kulturarbeit vermag, das vermag die Gnade, sie löst und heilt von der Macht der Sünde. Sie macht Wollüstlinge zu keuschen Menschen, Trunkenbolde zu nüchternen Leuten, Jähzornige zu sanften Lämmern, Geizige zu Wohltätern, Flucher zu Betern, Spötter zu Lobenden, Verbrecher zu gehorsamen Söhnen Gottes und Friedenskindern, selbstgerechte Hochmütige zu demütigen Seelen, die nichts mehr wissen als Jesus; sie macht aus Hoffärtigen schlichte Leute, aus Hassenden Liebende, aus Kranken Gesunde; sie überbrückt den Rassen-, Klassen- und Geschlechtsunterschied und macht alle Begnadigten zu einer großen Familie von glückseligen Kindern Gottes. Ja, Christus ist uns gemacht zur Heiligung! (1.Kor. 1,30).
Und noch mehr, die Gnade befreit von der Furcht des Todes. Der Unglaube redet ja gerne von der Naturnotwendigkeit des Todes, vom „Werden und Vergehen“, vom Gesetz der Vergänglichkeit usw., und betrachtet derart den Tod als die größte Selbstverständlichkeit, ja als die Bedingung des Lebens. Nicht so der Glaube. Ihm offenbart die Bibel, daß der Tod ein Feind und Eindringling in der Schöpfung ist, der nicht immer bleiben wird. Der Tod ist der Sünde Sold, das heißt das letzte und grausigste Ergebnis der verderbenden, zerstörenden Macht der Sünde.
Ist einst die Sünde aus der Welt wieder hinausgebannt, dann wird auch der letzte Feind, der Tod, hinweggetan sein (1.Mose 2,17; Röm. 5,12 und 23; 1.Kor. 15,26; Hebr. 2,14; Offb. 20,14; 21,4). Indes ist für den Gläubigen dem Tode die Macht genommen (2.Tim. 1,10); denn Christus ist die Auferstehung und das Leben; wer an ihn glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist (Joh. 11,25). Da hört die Todesfurcht auf.
Auch der Ungläubige möchte die Todesfurcht loswerden. Was tut er da? Er betet den Tod als Erlöser an und hofft auf die „Ruhe im Grabe“. Welch verzweifelte Hoffnungslosigkeit liegt in dieser Tatsache! Welcher Bankrott des menschlichen Geistes und aller Kulturarbeit! Und zu der Hoffnungslosigkeit gesellt sich die Gedankenlosigkeit, die auf den Leichenstein schreibt: „Friede seiner Asche!“ Hatte der lebende Mensch nie Frieden, so soll wenigstens seine Asche „Frieden“ haben. Was wird die Asche vom Frieden fühlen?! Oder: „Möge ihm die Erde leicht sein!“ Und zu gleicher Zeit setzt man einen schweren Stein aufs Grab!!! Wie schwer muß das dem Toten werden! –
Ja, der Unglaube ist stets gedankenlos und hoffnunglos! So wird er auch trotz alles großen Redens die Todesfurcht nicht los. Zola, der französische Romanschriftsteller, bekannte, der Gedanke des Todes liege ihm stets im Sinn. „Wir lassen die ganze Nacht Licht in unserem Schlafzimmer brennen“, schreibt er, „und oft, wenn ich meine Frau, ehe sie einschläft, noch einmal ansehe, fühle ich auch, daß sie denkt, was ich denke, und wir sehen uns schweigend an, weil uns ein Gefühl der Schonung für den anderen nicht zu Worte kommen läßt. Ach, der Gedanke ist schrecklich! Zuweilen springe ich des Nachts mit beiden Füßen aus dem Bett und stehe einen Augenblick in unbegreiflicher Furcht erstarrt da.“ – Das ist doch wenigstens ein ehrliches Geständnis der Todesfurcht angesichts der poetischen und naturalistisch-pantheistisch-monistischen Verherrlichung des Todes durch die Ungläubigen! Gepriesen sei die Macht der Gnade, die auch das letzte Ergebnis der Sünde, den Tod, überwunden hat und von der Todesfurcht befreit! „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben!“ Sie wissen:
„Bald, bald ist’s überwunden.
Nur durch des Lammes Blut,
Das in den schwersten Stunden
Die größten Wunder tut.“
Halleluja, Christus ist uns auch gemacht zur Erlösung, ja zur Erlösung unseres Leibes aus der Knechtschaft des Todes! (1.Kor. 1,30; Röm. 8,23; Phil. 3,21).
III.
Aber all das Reden von der Macht der Gnade, die viel mächtiger ist als die Macht der Sünde, wird dich sehr kalt lassen, wenn du die Macht der Sünde nicht persönlich in deinem Leben erkannt und erlebt hast. Nur wer schaudernd vor der Macht der Sünde gestanden, sucht die rettende Macht der Gnade. Nur wer als ein Mühseliger und Beladener seine Ohnmacht im Kampfe gegen die Macht der Sünde eingesehen hat und weiß: Ich kann weder vergangene Schuld tilgen, noch zukünftige vermeiden, nur wer als ein „Verlorener“ seine aussichtslose innere Verderbnis eingesehen, nur der versteht und erfaßt die Gnade. Gnade ist ja nur für verurteilte Verbrecher.
Wenn ich jetzt durch die Straßen dieser Stadt gehen und den ersten besten Herrn ins Gesicht fragen würde: „Wissen Sie schon, daß Sie begnadigt sind?“ so könnte es sein, daß er mir grob beleidigt antworten würde: „Wissen Sie schon, daß Sie verrückt sind? Bin ich etwa dem Gefängnis entlaufen?“ Siehe, er würde mich nicht verstehen, aber ein Sträfling würde mich verstehen. Ja, nur Leute, die sich von Gott verurteilt wissen, verstehen, was es heißt, von Gott begnadigt sein. Die anderen spielen höchstens mit dem Wort Gnade, oder sie verachten es; denn nichts haßt der Mensch so sehr, als nur noch von Gnade leben zu sollen. Als zugewandte Gunst, die seine Person ehrt und bevorzugt, läßt er sich die Gnade ja gefallen, aber als Erbarmen dem verlorenen Sünder gegenüber ist ihm die Gnade verhaßt. Er will kein „Verlorener“ sein! Er will kein aussichtslos ruinierter Bankrotteur sein! Er will etwas Respektables sein, etwas gelten und sich mit eigenen Kräften erlösen, wenn er überhaupt eine Erlösung für nötig hält. Deshalb der Widerspruch gegen die Torheit des Wortes vom Kreuz.
Und doch heißt unser Textwort: „Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel überfließender (wörtlich) geworden.“ Es muß also die Sünde erst eine gewisse Macht haben entfalten und als solche offenbar werden können, damit dann die Gnade noch übermächtiger sich erweisen könne. Siehe, so war es auf Golgatha! Nie wohl war die menschliche Sünde so mächtig geworden als in jener „Stunde der Finsternis“, wo man das Licht der Welt zu verlöschen suchte und den Abgesandten Gottes, den Sohn des Höchsten, den Erben, den Heiligen in Israel, den Urheber des Lebens und größten Wohltäter der gefallenen Menschheit zwischen zwei Übeltäter ans Kreuz nagelte. Und gerade da strömte die Gnade Gottes am überfließendsten in die Welt. Jeder Schlag ins Angesicht des Herrn entlockte seinem Herzen nur neue Liebe zu den Peinigern, jedes Schmähwort war nur Öl ins Feuer seiner Liebe, daß sie sich noch mehr verzehrte für die verirrten Sünder. Aber erst als sie erkannten, wen sie getötet und wie groß ihre Sünde, da schlugen sie an ihre Brust, da durchbohrte es ihr Herz, da riefen sie: „Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun?“
Nun wohl, dieselbe sündige, gottfeindliche, fleischliche Gesinnung, die damals die Gegenwart Jesu nicht mehr ertragen konnte, lebt auch in uns. Auch wir hätten ihn gekreuzigt oder uns an ihm geärgert. Deshalb muß auch uns erst zu Bewußtsein gebracht werden, wer wir sind. Mit anderen Worten, die Sünde muß erst vor unserem Geist und Gewissen mächtig geworden sein, wenn die viel mächtigere Gnade unser Heil werden soll.
Dazu gebraucht Gott hauptsächlich drei Wege:
erstens das Gesetz,
zweitens die Predigt vom Kreuz,
drittens seine besondere Erbarmung.
Das Gesetz, sagt Paulus, macht die Sünde „überaus sündig“ (Röm. 7,13), das heißt das Gesetz, sowohl das klassisch formulierte sinaitische als jedes Moral- und Strafgesetz, will die Sünde als Sünde zu Bewußtsein bringen, um so ein „Zuchtmeister“ auf Christus hin zu sein (Gal. 3,24). Eine Frau konnte gar nicht fassen, daß sie eine verlorene Sünderin sein sollte. „Haben Sie denn die Gebote gehalten?“ wurde sie gefragt. „Jawohl, alle!“ war die Antwort. „Frau, Sie kennen sich ja selber nicht!“ wurde ihr entgegnet. „Kennen Sie denn das vornehmste Gebot, in dem alle anderen hangen?“ Nein, das kannte sie nicht.
Nun gut, man sagte es ihr, das „vornehmste“ Gebot lautet: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Verstand (Gemüt) und aus deiner ganzen Kraft … und deinen Nächsten wie dich selbst; „haben Sie das gehalten?“ – „Ja!“ – „Wirklich? Immer und allezeit von ganzem Herzen, ganzer Seele?“ – „Nun, vielleicht nicht immer so ganz“, gab sie zu. „Dann sind Sie die vornehmste Sünderin!“ – „Was“, schrie sie, „ich?“ – „Jawohl; denn Sie haben ja das ,vornehmste‘ Gebot übertreten!“ – Da erst wurde die Sünde durchs Gesetz in ihrem Bewußtsein überaus mächtig und sündig, und nun erst vermochte sie die noch viel mächtigere Gnade wirklich zu ihrem Heil zu erfassen.
Weiter. Paulus sagt auch: „Der Glaube kommt aus der Predigt“ (Röm. 10,17), nämlich aus der Verkündigung des Wortes vom Kreuz. Wäre die Predigt allerorts in Erweisung des Geistes und der Kraft und nicht in überredenden Worten menschlicher Weisheit, nämlich in Redeweisheit, die das Kreuz Christi zunichte macht (1.Kor. 2,4 und 1,17), so würde überall durch das Wort vom Kreuz Sünden- und Gnadenerkenntnis gewirkt. Bloße Moralpredigten aber ändern am Menschen gar nichts. Sie täuschen ihn nur, indem sie ihn anspornen zur Selbstverbesserung, die doch aussichtslos ist. Das Kreuz von Golgatha predigt uns nicht Selbstverbesserung, sondern Selbstverwerfung, damit wir uns dann bankrott und bedingungslos werfen in die Arme der allein heilsamen Gnade, die erschienen ist allen Menschen (Titus 2,11). Wo die Bedeutung des Kreuzes und Blutes Christi recht gepredigt wird, da wird der selbstgerechte Mensch vor dem Kreuz zum verlorenen Sünder, der fortan nur noch durch Gnade zu leben begehrt und dem es dann beim Gnadenbrot in der siegreichen Kraft des Blutes Christi vortrefflich ergeht.
Nach einem Evangelisationsvortrag, dessen Mittelpunkt das Sühnopfer Christi war, kam ein Herr zu mir und bestritt die Notwendigkeit einer blutigen Sühne unserer Sünden in Christus vor Gott. Ich fragte ihn einfach, ob er ohne den Glauben an die auf Golgatha vollbrachte Sühne wirklichen Frieden mit Gott als Gewißheit der Vergebung seiner Sünden hätte. Er antwortete sehr flink: „Ja.“ Ich sah ihm scharf ins Auge und sagte: „Nein!“ und wünschte ihm eine gute Nacht. Er wohnte mit mir in demselben Gasthaus.
Als ich am folgenden Morgen das Gastzimmer betreten wollte, sah ich durch die Glastür, wie mein Herr schon auf mich wartete. Sofort kam er auf mich zu und fragte, ob ich ihm eine Frage beantworten wollte. „Gern“, sagte ich, „aber ich möchte erst meinen Kaffee trinken.“ Du hast ja, dachte ich, einen so großen Frieden, du kannst ja warten. Unterdes saß er da wie auf glühenden Kohlen und trommelte nervös mit den Fingern auf den Tisch. Endlich war ich zu sprechen. „Können Sie mir“, fragte er, „einige Stellen in den Evangelien zeigen, wo Jesus selbst davon redet, daß er sein Blut als Lösegeld für unsere Sünden gibt?“ Nichts war leichter als dieses. Er atmete befriedigt auf, als ich ihm einige Stellen vorgelesen hatte. „Können Sie mir“, fragte ich hierauf, „auch eine Frage beantworten? Haben Sie mich gestern abend, als Sie sagten, Sie hätten Frieden, belogen?“ „Ach!“ schrie er da auf und fuhr sich in die Haare, „ich habe ja die ganze Nacht nicht geschlafen!“ – Da war der faule Friede, den er wohl mit sich selbst gemacht hatte, aber der kein Frieden mit Gott war, offenbar geworden. – Derselbe Herr hat nun seit Jahren wirklichen Frieden mit Gott, Frieden, der von Gott gemacht ist durch das Blut des Kreuzes (Kol. 1,20). Das Wort vom Kreuz hatte ihm die Sünde mächtig erscheinen lassen, damit ihm nachher die Gnade noch viel mächtiger erscheinen konnte.
Das dritte war, Gott stellt uns vor die Macht der Sünde auf dem Wege besonderer Erbarmung, indem er unsere Sünden gewissermaßen ausreifen läßt, damit wir dann, wenn die Sünde am mächtigsten geworden ist, durch sein Erbarmen plötzlich ihre Macht erkennen und, heilsam erschrocken, ihr entfliehen. Bis zu einem gewissen Grade gilt da wirklich: Wo die Sünde am größten geworden ist, da ist die Gnade am nächsten.
Mir fällt da immer eine Bekehrungsgeschichte ein, die das ergreifende Erbarmen Gottes wundersam verkündigt. Der sie erlebte, hat sie mir selbst erzählt. Er war ein armer Schuster und ein noch ärmerer Trinker. Heute ist er kaum noch arm. Aber damals ging alles durch die Gurgel. Auf dem Weg ins Wirtshaus kam er gewöhnlich am Versammlungslokal der Gläubigen im Dorfe vorbei. Er erzählte mir:
„Ich stand jedesmal, wenn sie ,Stund‘ hatten, still und lauschte. Dann hört ich sie singen oder beten oder hört ein paar Sätze von der Ansprach, und jedesmal hieß es in mir: die Leut haben mehr als du; die brauchen nicht zu saufen und zu fluchen und ihre Frau zu prügeln, wenn sie nach Haus kommen; die sind glücklich. Aber dann kam ‘ne andere Stimm, die höhnte: ,Sollst du ein Mucker werden? Schäm dich!‘ Und dann spuckt ich an die Wand und ging ins Wirtshaus. So ging’s immer wieder. Am liebsten war ich gar nicht mehr dort vorbeigegangen; aber es zog mich immer wieder hin zum Lauschen, und es war auch der nächst Weg ins Wirtshaus.
Eines Samstags wollte ich auf den Holzverstrich. Aber ich kam wieder nur bis ins Wirtshaus, obgleich ich mir fest vorgenommen hatte, keinen Fuß hineinzusetzen. An dem Abend soff ich mehr als je zuvor. Im Wirtshaus gab’s Krach und zu Haus auch. Am Sonntagmorgen wacht ich auf. Ach, das Aufwachen! Ich hätt gewünscht, die Erde wär in der Nacht in die Luft geflogen, und ich mit. Nur, daß ich nicht mehr aufzuwachen und wieder zu fluchen und zu saufen brauchte; denn anders gab’s ja doch wieder nichts. Schließlich mußt ich aber doch heraus; denn es war Sonntag, und da mußt ich ja arbeiten. Von meiner Frau sah ich nichts, aber den Kaffee hatte sie mir warm gestellt. Fluchend setzte ich mich an den Schustertisch. Je mehr es innen hämmerte, desto wütender hämmerte ich aufs Leder. Mit einemmal fing mein Kind an zu singen, mein fünfjähriges Mädchen. Es saß in der Stubenecke, und ich hatt’s gar nicht gesehen. ,Ich bete an die Macht der Liebe‘, sang es. Meine Frau hatte es nämlich in die Sonntagsschul geschickt; da hatte es das gelernt. ,Schweig!‘ schrie ich und drohte mit dem Hammer.
Aber es sang doch wieder, und wie es an den dritten Vers kam:
„Ich fühl’s, du bist’s, dich muß ich haben; Ich fühl’s, ich muß für dich nur sein“ –
da war’s vorbei: Da schlug ich mit dem Kopf auf den Tisch, und das Wasser lief mir aus den Augen. Und es lief, bis ich wie aufgeweicht war. Da konnte ich’s nicht mehr aushalten. Ich schleppt mich ans zerwühlte Bett und sank auf die Knie. ,Heiland!‘ schrie ich, ,es geht nicht mehr! Es ist so, wie das Mariechen gesungen hat: Ich fühl’s, du bist’s, dich muß ich haben. Erbarm dich meiner und erlös mich von dem elenden Leben!‘ Das andere, was ich geschrien hab’, weiß ich nicht mehr.
Aber wie ich aufstand, war ich ein neuer Mensch. Inwendig war’s ganz wunderlich still geworden, und wie ich wieder in die Wohnstub kam, war mir’s, als lief ich hinein ins weite Paradies. So ging ich auf die Fenster zu und merkte erst jetzt, daß die Sonne schien. Und wie ich als neuer Mensch in den Himmel hinaufsehen wollt, sah ich gerade meinen größten Feind draußen vorübergehen. Wir hatten uns beim Schnaps entzweit, und ich hatt ihm Rache geschworen. Hätt ich ihn eine Viertelstund früher gesehen, wer weiß, was passiert wär! Ich glaub, ich hätt ihm den Hammer durchs Fenster hindurch an den Schädel geworfen! Und jetzt? Ein grenzenloses Erbarmen packte mich, als ich ihn sah. Eh ich’s dachte, hatt ich die Hand gefaltet und mußte flehen: ,Herr Jesus, du hast mich nun in deine Hand gekriegt, ach, bitte, hol dir doch nun auch den da, der hat’s ja so nötig wie ich, und mach ihn doch auch so glücklich, wie du mich jetzt gemacht hast!‘“ – Und des bekehrten Schusters Glück währt heute noch und wird ewig währen.
Siehe, wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden!
Und nun ist hier keiner, dessen Sünde zu groß wäre, als daß sie ihm nicht durch die viel mächtigere Gnade zu vergeben wäre, und keiner, dessen Sünde zu gering wäre, so daß er keine Vergebung durch die heilsame Gnade brauchte.
Jetzt handelt es sich nur noch darum, daß du als verurteilter Verbrecher die Notwendigkeit deiner Begnadigung einsiehst und die dir angebotene Gnade als dein persönliches Teil ergreifst, um als ein begnadigtes Gotteskind zu erfahren, daß die Macht der Gnade viel mächtiger ist als alle Macht der Sünde, die dich bisher knechtete.
Wird diese mächtige Gnade dich jetzt so erreichen und erretten können?
Die Frage gilt dir!
Was wird deine Antwort sein?
Es wird dein ewig Los von dieser Antwort abhängen. Darum besinne dich ehrlich in Gottes Gegenwart, und dann wähle, welche Macht dich beherrschen soll: die knechtende, verderbende Macht der Sünde oder die viel mächtigere Macht der dir angebotenen rettenden Gnade!
Diese Ansprache wurde aus dem Buch von Fritz Binde „Feuer auf Erden“ (Neuausgabe 2012 Christliches Versandantiquariat Leonberg) entnommen und ist hier mit freundlicher Genehmigung des Verlages abgedruckt. Einige altertümliche sprachliche Wendungen wurden von R. E. behutsam bearbeitet.
Veröffentlicht auf www.das-wort-der-wahrheit.de 21. 5. 2013