Die Strömung, die wir heute als „neuen Evangelikalismus“ bezeichnen, hat ihre Ursprünge in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts und entstand in Abgrenzung zu der damals starken Bewegung der bibeltreu-„fundamentalistischen“ Gläubigen. Um den modernen Evangelikalismus richtig einordnen zu können, muß hier kurz auch auf den „Fundamentalismus“ in den USA eingegangen werden. Er entstand als Reaktion bibeltreuer Gläubiger auf den wachsenden Einfluß der bibelkritischen Theologie und des Liberalismus in den amerikanischen Kirchen ab Mitte des 19. Jahrhunderts.

 

Der Einfluß des theologischen Liberalismus und die bibeltreue Gegenbewegung in den USA

 

Das liberale Christentum entwickelte sich im Gefolge der „Aufklärung“, die im 18. Jh. die Grundlagen des christlichen Glaubens im Namen der Vernunft in Frage stellte; es gewann im 19. Jh. überall an Einfluß in den Kirchen der Reformation und beherrscht seit dem 20. Jh. fast alle protestantischen Großkirchen. Es verleugnet die seit der Reformation fest verankerte Überzeugung, daß die Bibel die verbindliche, von Gott inspirierte Grundlage für Glauben und Leben ist.

Der Liberalismus erklärt die Bibel zu einer Sammlung menschlicher Geschichten und Mythen; er leugnet die Schöpfung der Welt, die Jungfrauengeburt und die Gottheit Jesu Christi, die Wunder des Herrn, das stellvertretende Sühnopfer Jesu Christi, Seine Auferstehung und Himmelfahrt, das ewige Gericht über die Sünder und die ewige Herrlichkeit der Erlösten. Das liberale „Christentum“ ist in Wahrheit eine heidnische Religion, gegründet auf der „menschlichen Vernunft“ als dem höchsten Prinzip. Es erniedrigt den Herrn Jesus Christus zu einem bloßen menschlichen Morallehrer; es predigt die moralische Verbesserung des Menschen durch die Grundsätze der Bergpredigt und eine schrittweise moralisch-sittliche Höherentwicklung des Menschen durch soziale Reformen, die „Verwirklichung des Reiches Gottes in dieser Welt“ durch sozialpolitischen Aktivismus.

Dieses liberale Christentum bedeutet in Wahrheit den vollzogenen Abfall vom Glauben an den biblischen Herrn Jesus Christus; es ist eine antichristliche Religion, eine tödliche und verderbenbringende Irrlehre (vgl. 2Pt 2,1-2). Sie breitete sich vor allem unter den Intellektuellen aus, die im Zuge der bibelkritischen Aufklärung und besonders der Evolutionslehre Darwins lieber der weltlichen „Wissenschaft“ als der biblischen Offenbarung glauben wollten. Sie faßte überall zuerst in den christlichen Seminaren und akademischen Einrichtungen Fuß, vergiftete die Pastoren und von ihnen aus die Jugend und dann immer mehr die Gemeinden.

Als dieser tödliche Liberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jh. immer mehr Einfluß in den früher konservativ-reformatorisch geprägten klassischen Kirchen der USA fand (das waren vor allem die Presbyterianer, die Kongregationalisten und die Episkopalkirche, aber auch Bewegungen wie die Methodisten und Baptisten), erkannten viele Gläubige, daß sie nun für den Glauben kämpfen mußten, der ihnen ein für allemal überliefert worden war (Judas 3). Niemand, der seinen Herrn und Erlöser wirklich liebte, konnte zu den verderblichen Lehren schweigen und mit einer solchen Irrströmung friedlich zusammenarbeiten.

So kam es ab den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts zu immer schärfer werdenden innerkirchlichen Auseinandersetzungen um die Wahrheit und die grundlegenden Lehren der Bibel. Die bibeltreuen Gläubigen, die seit den Tagen Wesleys auch als „evangelicals“ (d. h. solche, die für das biblische Evangelium eintreten) bekannt waren, verteidigten in Predigten, Büchern, Zeitschriftenartikeln und Traktaten die Wahrheit der Schrift. 1910-1915 erschienen vier Bände mit einer Reihe von Aufsätzen, in denen zahlreiche Bibellehrer und Verkündiger die Grundlagen des christlichen Glaubens gegen die liberalen Angriffe verteidigten. Der Titel dieser weit verbreiteten Bände, The Fundamentals [„Die Grundlagen“] gab den Anlaß, die bewußt konservativen (d. h. bewahrenden) Christen „fundamentalists“ zu nennen. Da der Begriff „Fundamentalisten“ inzwischen zu einem politischen Kampfbegriff gemacht wurde, spreche ich lieber von den konservativen, entschieden bibeltreuen Christen.

Unter diesen Gläubigen breitete sich Ende des 19. Jahrhunderts auch die Erkenntnis aus, daß die Bibel Wesentliches über das Ende der Zeiten zu sagen hat, das in den Kirchen reformatorischer Prägung vernachlässigt worden war. In vielen Bibelkonferenzen wurde die biblische Wahrheit von der baldigen Wiederkunft des Herrn Jesus Christus, von der Wiederherstellung Israels und der Aufrichtung eines wörtlichen Tausendjährigen Friedensreiches durch den Messias auf den Leuchter gestellt. Zuvor waren die meisten Gläubigen in einer falschen Lehre gefangen gewesen, die die Reformatoren von der Katholischen Kirche, besonders von Augustin, übernommen hatten: danach habe die Kirche alle Verheißungen der alttestamentlichen Propheten für das Volk Israel geerbt und sei berufen, das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen.

Die Wiederkunft Christi wurde geleugnet oder ganz ans Ende des Tausendjährigen Reiches verlegt, große Teile des AT wurden allegorisch (sinnbildlich) ausgelegt und auf die Kirche bezogen. Demnach sei ein allmähliches Wachstum des christlichen Einflusses in der Welt Gottes Ziel, bis alle Menschen Christen geworden seien. Diese Irrlehre aus den Tagen Augustins hatte sehr zur Entartung der katholischen Weltkirche und zum Bündnis der reformatorischen Kirchen mit dem „christlichen“ Staat beigetragen.

Durch das Wirken des Geistes Gottes erkannten nun viele Gläubige, daß diese Lehren falsch waren, daß die Bibel eine ganz andere Lehre von der Gemeinde und der Endzeit hat: Die Endzeit ist eine Zeit zunehmender Gesetzlosigkeit und Verführung und des Abfalls vom christlichen Glauben; sie hat ihren Höhepunkt im Auftreten des Antichristen, der großen Drangsal für Israel und dem sichtbaren Kommen des Herrn Jesus Christus in Macht und Herrlichkeit. Er wird die Heidenvölker blutig richten, den Überrest Israels aus Gnaden annehmen und Sein Friedensreich in Jerusalem aufrichten. Die Gemeinde wird vor der großen Drangsal entrückt und begleitet Christus bei Seiner Wiederkunft, um mit Ihm an Seiner Königsherrschaft teilzuhaben.

Diese Lehre des „Dispensationalismus“ brachte Ende des 19. Jahrhunderts eine geistliche Erweckung mit sich; sie spornte viele Gläubige zu eifrigem evangelistischem Zeugnis und zur Heiligung für den Herrn an. Zu den bekannten fundamentalistischen Bibellehrern des frühen 20. Jahrhunderts zählen C. I. Scofield, A. C. Gaebelein, A. T. Pierson, R. A. Torrey und H. A. Ironside. Daneben kämpften auch presbyterianische Theologen wie B. B. Warfield und J. G. Machen gegen die Auflösung biblischer Wahrheit durch die Liberalen. Die Gläubigen sammelten sich in bibeltreuen Gemeinden, die zum Teil recht groß und einflußreich wurden.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde es zunehmend klar, daß die großen Kirchenverbände fest in der Hand der Liberalen waren. Die meisten entschieden bibeltreuen Gläubigen erkannten, daß sie nicht länger in diesen vom Sauerteig der Irrlehre befallenen Verbänden bleiben konnten. Es entstanden zahlreiche unabhängige baptistische Gemeinden, die sich in verschiedenen Verbänden sammelten. Daneben gab es auch Abspaltungen von anderen Kirchen.

Die Absonderung von den liberalen Einflüssen wurde ein wichtiger Grundsatz der Bibeltreuen in den USA. Sie führten einen entschiedenen und mutigen Kampf gegen die zunehmenden Abfallstendenzen vom biblischen Glauben und verkündigten treu das Evangelium. Sie waren deshalb verhaßt bei den Liberalen und der Welt, die sie als „engstirnige Fanatiker“ und „rückständige Provinzler“ abtaten. Aber viele Tausende von meist einfachen Leuten bekehrten sich in diesen Jahren, und der Herr segnete die „fundamentalists“.

 

Ausbruch aus der „Enge“ der Bibeltreuen: der neue Evangelikalismus

 

In dieser weit gefächerten Bewegung gab es auch einige jüngere Prediger der zweiten und dritten Generation, die Mitte des 20. Jahrhunderts einen neuen Kurs suchten. Teilweise waren sie in den liberalen Kirchenverbänden verblieben, als die entschiedeneren Bibeltreuen hinausgegangen waren. Unter ihnen waren Prediger, die intellektuell hoch begabt waren und an weltlichen oder liberalen Elite-Universitäten studiert hatten. Sie wollten heraus aus der Isolation der fundamentalists; sie wollten intellektuelles Ansehen, Einfluß in den liberalen Großkirchen und Gehör bei den akademischen Theologen. Sie strebten nach einer „Reform“ des Fundamentalismus und bezeichneten sich bald als die „neuen Evangelikalen“.

Ein erster Schritt zur Sammlung war die Gründung der „National Association of Evangelicals“ (NAE) 1942; 1947 wurde das Fuller Theological Seminary als intellektuelle Eliteschule des neuen Evangelikalismus gegründet. Die neue Bewegung gewann bald Anhänger und wachsenden Einfluß, besonders unter der mittleren und jüngeren Generation der fundamentalists, von denen manche kampfesmüde geworden waren und den Weg der Absonderung verlassen wollten. Zu den führenden Gestalten der neuen Evangelikalen gehörten Harold J. Ockenga, Carl F. Henry, Harold Lindsell, Billy Graham und Bill Bright. 1956 wurde die sehr einflußreiche neu-evangelikale Zeitschrift Christianity Today gegründet.

Was waren nun die Kennzeichen dieser neuen Bewegung? Sie strebte einen Kompromiß mit dem liberalen Christentum und der modernen Theologie an; sie wollten den Dialog und die „wissenschaftliche Diskussion“ statt des entschiedenen Kampfes für den überlieferten Glauben. Sie verfälschten das biblische Verbot des Richtens dahingehend, daß sie die klare Beurteilung und Abgrenzung von weltlichen Anschauungen und Irrlehren als „Richten“ verwarfen. Sie sagten, sie würden die Grundlagen des biblischen Glaubens nicht antasten; sie wollten nur das Positive betonen, anstatt sich kämpferisch vom Liberalismus abzugrenzen. Sie lehnten ausdrücklich das „Negative“, Kämpferische bei den fundamentalists ab. Insbesondere verwarfen sie die biblische Absonderung von der Welt und allen Irrlehren (2Kor 6,14-18). Sie betonten einseitig „Liebe“ und „Einheit“ auf Kosten der Wahrheit und der Heiligkeit der Gemeinde.

In der Theologie wollten sie „offen sein für neue Fragestellungen“, z. B. ob die Schöpfung tatsächlich in sechs Tagen geschehen sei. Man wollte die moderne weltliche Kultur ernstnehmen und in sie hineinwirken, ebenso in die akademische Theologie und allgemeine Wissenschaft. Außerdem wollte man sich für gesellschaftliche Reformen engagieren. Der Dispensationalismus wurde weithin abgelehnt, und viele führende Evangelikale kehrten zu den falschen Lehren über die Kirche als dem christlich machenden Sauerteig in der Welt zurück.

Die neuen Evangelikalen gaben auch die Abgrenzung gegenüber der Pfingstbewegung auf und verbündeten sich mit dieser Irrströmung in der NAE und anderen Projekten. Man pflegte Kontakte mit dem vom Glauben abgefallenen „Ökumenischen Weltrat der Kirchen“ und mit der katholischen Kirche. Das machte sich besonders in der neuen Art der Evangelisation bemerkbar, die Billy Graham einführte. Er arbeitete schon seit den 50er Jahren bewußt mit liberalen Protestanten und mit der katholischen Kirche zusammen und schickte z. B. „Bekehrte“ aus seinen Feldzügen in die katholische Kirche und sogar ins liberale Judentum zurück.

Der „neue Evangelikalismus“ hatte vordergründigen Erfolg. Er brachte Schriftsteller hervor, die viel beachtete Bücher schrieben, gewann Einfluß in Gesellschaft und Politik, eroberte bald zahlreiche Colleges und Theologische Seminare. Mit dem Erfolg verstärkte sich die falsche Offenheit dieser Bewegung immer mehr, und die Vermischung mit der liberalen Theologie, weltlicher Wissenschaft und verführerischen Strömungen nahm zu.

Schließlich schlugen zwei bekannte Evangelikale mit konservativer Prägung öffentlich Alarm, daß eine erdrutschartige Fehlentwicklung im Gange war: 1974 brachte Harold Lindsell sein Buch The Battle for the Bible („Der Kampf um die Bibel“) heraus; 1984, kurz vor seinem Tod, schrieb Francis A. Schaeffer The Great Evangelical Disaster („Die große Katastrophe der Evangelikalen“, dt. „Die große Anpassung“). Beide wiesen eindringlich darauf hin, daß im neuen Evangelikalismus die Irrtumslosigkeit und göttliche Inspiration der Bibel immer mehr in Frage gestellt und verlassen wurde. Mit großem Ernst warnten diese Männer davor, daß mit der Preisgabe der Irrtumslosigkeit der Bibel die Tür geöffnet wird für jegliche Art von Irrlehren und daß damit der Boden des biblischen Christentums verlassen wird. Doch es gab kein Zurück mehr. Nun wurden die Folgen der Preisgabe der Absonderung offenbar, und das ernste biblische Gesetz erwies einmal mehr seine Gültigkeit: „Ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig“ (Gal 5,9).

Mit der Preisgabe der vollkommenen Offenbarungswahrheit der Heiligen Schrift waren tatsächlich wichtige geistliche Dämme gebrochen, und in den 70er und 80er Jahren drang eine Flut von falschen Lehren ein und führte den neuen Evangelikalismus immer weiter von den biblischen Grundlagen weg. Insbesondere öffnete er sich immer mehr für die ökumenisch-liberale Verführung, auch gewann die Charismatische Bewegung in den Reihen der modernen Evangelikalen immer mehr Anhänger (vor allem durch die Bewegung der „Dritten Welle“ und John Wimber).

Das biblische Evangelium wurde immer weiter verwässert und aufgelöst; humanistische und katholische Einflüsse nahmen zu. Zudem öffnete man sich zunehmend für weltliche Psychologie und esoterische New-Age-Lehren. Katholische Mystiker wie Thomas Merton und Henri Nouwen sowie Befürworter von New-Age-Meditationstechniken wie Richard Foster (die alle lehrten, es gebe verschiedene Wege zu Gott, auch in anderen Religionen) gewannen durch die Bewegung der „neuen Spiritualität“ viel Einfluß; ein bedeutender Sprecher dieser Bewegung ist der Philosoph und Theologe Dallas Willard. Irrlehrer wie Norman Vincent Peale, Robert Schuller oder extremcharismatische Verführer wie John Wimber, Kenneth Hagin oder Yonggi Cho wurden gelobt und empfohlen – vielfach von Schlüsselfiguren wie Billy Graham.

Die weltliche Pop- und Rockmusik und ihr „christliches“ Gegenstück, besonders die charismatischen Lobpreislieder, wurden überall in den evangelikalen Kreisen populär und prägten die jüngere Generation, verbunden mit einem zunehmend weltförmigen, unzüchtigen, rebellischen Lebensstil. Die mittlere Generation der modernen Evangelikalen engagierte sich ab den 80er Jahren zunehmend in der „Gemeindewachstumsbewegung“, die von Megagemeinden wie Willow Creek und Saddleback geprägt wurde und danach strebte, „kirchenferne“ Menschen durch ein weltliches Konzept der „Bedürfnisorientierung“, durch Showbetrieb im Stil der weltlichen Rock- und Popkultur und zielgruppenorientierte verkürzte Predigten an sich zu binden.

 

Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch von Rudolf Ebertshäuser Aufbruch in ein neues Christsein? „Emerging Church“ – Der Irrweg der postmodernen Evangelikalen.

 

Hier können Sie das ganze Buch herunterladen

 

 

Weiterführende Literatur:

 

Rudolf Ebertshäuser: Zerstörerisches Wachstum. Wie falsche Missionslehren und verweltlichte Gemeindebewegungen die Evangelikalen unterwandern. Steffisburg (Edition Nehemia) 3. Aufl. 2015; gebunden, 544 S.

Rudolf Ebertshäuser: Aufbruch in ein neues Christsein? Emerging Church – Der Irrweg der postmodernen Evangelikalen. Steffisburg (Edition Nehemia) 2008, Taschenbuch, 256 S.

Rudolf Ebertshäuser: Soll die Gemeinde die Welt verändern? Das „Soziale Evangelium“ erobert die Evangelikalen. Steffisburg (Edition Nehemia) 2014, Taschenbuch, 276 S.

 

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